Donnerstag, 18. April 2024

Volle Kanne – nachgeschenkt

Wird brauchen noch mit zu gebraucht? Warum gibt es Fußnägel, aber keine Handnägel? Hat man sich erschreckt oder erschrocken? Bastian Sick beantwortet typische und kuriose Fragen, die ihm die Zuschauer der ZDF-Sendung „Volle Kanne“ gestellt haben.

Als Zwiebelfisch-Autor Bastian Sick zu Gast in der ZDF-Sendung „Volle Kanne“ war, gingen beim Sender unzählige Fragen per E-Mail ein – mehr als die „Volle Kanne“-Redaktion je zu irgendeinem anderen Thema bekommen hat. Unmöglich, all diese Fragen noch während der Sendung zu beantworten. Bastian Sick nahm den Stapel mit den ausgedruckten E-Mails mit nach Hause, um sie in aller Ruhe durchzulesen. Einige besonders typische und einige ganz und gar untypische hat er ausgewählt, um sie hier exemplarisch zu beantworten.


Frage: Guten Morgen, lieber Herr Sick, auf einem Gedenkstein habe ich einmal folgende Inschrift gelesen: „Wider dem Vergessen“. Das ließ mich stutzen. Ist das so richtig?

Heike Posdzich

Bastian Sick: Liebe Frau Posdzich, Ihr Zweifel ist berechtigt. Die Präposition „wider“ erfordert den Akkusativ. Genauso wie das gleichbedeutende Wort „gegen“. „Wider das Vergessen“ bedeutet „Gegen das Vergessen“.

Man kann übrigens froh sein, dass dort auf dem Gedenkstein nicht „Wieder dem Vergessen“ stand. Die Verwechslung von „wider“ und „wieder“ kommt immer wider mal vor und ist total wiedersinnig 😉


Frage: Ich würde gerne wissen, warum es „Fußnägel“ und nicht „Zehnägel“ heißt. Wir haben doch auch keine „Handnägel“!

Helga Wunderlich

Bastian Sick: Unsere Sprache ist in der Tat manchmal recht wunderlich. Dass die Fingernägel keine Handnägel sind, liegt vermutlich daran, dass uns die Finger um einiges wichtiger (und näher) sind als unsere Zehen und wir deshalb genauer unterscheiden. Das sehen Sie allein schon daran, dass jeder Finger einen Namen hat (Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger), während man bei den Zehen nur zwischen dem großen Zeh (auch „großer Onkel“ genannt) und dem kleinen Zeh unterscheidet, für die drei Freunde in der Mitte haben allenfalls die Mediziner einen Namen. Übrigens kennt unsere Sprache nicht nur den „Fußnagel“, sondern auch den „Zehennagel“.


Frage: Ich habe gelernt, dass man „brauchen“ mit „zu“ gebraucht. Muss man das heute nicht mehr? Schließlich lassen viele Moderatoren „zu“ einfach weg!

Ulla Simon, Wuppertal

Bastian Sick: Liebe Frau Simon, Sie haben doppelt recht: erstens hat man früher gelernt, dass „brauchen“ mit „zu“ gebraucht wird, und zweitens gilt dies heute nicht mehr verbindlich. Der Duden erkennt an, dass „brauchen“ heute ohne „zu“ verwendet werden kann, auch wenn es einmal hieß: Wer „brauchen“ nicht mit „zu“ gebraucht, braucht „brauchen“ gar nicht zu gebrauchen.


Frage: Ich wohne seit mehreren Jahren in Hannover und wundere mich noch immer über die hier gebräuchliche Formulierung „ich habe mich erschrocken“. Heißt es nicht „ich habe mich erschreckt“?

Oma Irmgard aus Hannover

Bastian Sick: Man kann sich und andere auf vier verschiedene Weisen erschrecken:

1. Intransitiv: Ich erschrecke, ich erschrak, ich bin erschrocken

2. Transitiv: Ich erschrecke dich, ich erschreckte dich, ich habe dich erschreckt

3. Reflexiv/regelmäßig: Ich erschrecke mich, ich erschreckte mich, ich habe mich erschreckt

4. Reflexiv/unregelmäßig: Ich erschrecke mich, ich erschrak mich, ich habe mich erschrocken

Die reflexiven Formen gelten als umgangssprachlich, in gehobener Sprache (und im Schriftdeutsch) ist die erste Form vorzuziehen. Mehr dazu im Zwiebelfisch-Abc


Frage: Ich weiß, dass es nur freundlich gemeint ist, aber ich ärgere mich immer über ein Schild nach einer Baustelle, auf dem steht: „Vielen Dank für Ihr Verständnis“. Wer sagt denn eigentlich, dass ich dafür Verständnis habe?

Cordelia Rödder

Bastian Sick: Liebe Frau Rödder, in diesem Fall brauchen Sie mich gar nicht lange um Verständnis zu bitten, das bringe ich Ihnen sofort entgegen, denn Sie sprechen mir aus dem Herzen. Zur dreisten Unterstellung von Verständnis habe ich schon vor Jahren eine Kolumne geschrieben, Sie können sie hier nachlesen.

Die Deutsche Bahn hat sich übrigens einsichtig gezeigt und ihre Ansagen geändert. So heißt es bei Verspätungen statt „Wir bitten um Verständnis“ jetzt wieder „Wir bitten um Entschuldigung“. Es tut sich also was!


Frage: Gibt es das Wort „lohnenswert“?

Stephanie Domm, Rodenbach

Bastian Sick: Gute Frage, liebe Frau Domm! Etwas kann lohnend sein oder lobenswert, wie auch lebenswert oder liebenswert, aber wäre etwas „lohnenswert“, so wäre es des Lohnens wert. Und was sollte das bedeuten? Zwar hört man das Wort „lohnenswert“ immer wieder, doch es ergibt keinen Sinn. Vielmehr handelt es sich um eine (irrtümliche) Kreuzung zwischen „lohnend“ und „die Mühe wert sein“.


Frage: Heißt es „ein oranges Hemd“ oder „ein orangenes Hemd“? Vielen Dank im Voraus für Ihre Antwort!

Andreas Wild

Bastian Sick: Lieber Herr Wild, die Frage nach der korrekten Beugung von Farbadjektiven ist ein Dauerbrenner unter den „Wie heißt es denn nun richtig“-Fragen. Alle Jahre wieder kommen orangefarbene Hemden in Mode und damit auch die Frage nach dem korrekten Umgang mit der Apfelsinenfarbe. Von mir aus können Sie gern orange Hemden tragen, Sie dürfen auch gern von orangen Sonnenuntergängen schwärmen oder von orangenen Blättern im Herbst. Die Umgangssprache ist da sehr flexibel. Die Standardsprache weniger: Ein Hemd, das orange ist, ist ein orange Hemd. Punktum. Man kann auch von einem orangefarbigen oder orangefarbenen Hemd sprechen. Für andere von Hauptwörtern abgeleitete Farbadjektive – oft Fremdwörter für Zwischentöne – gilt dasselbe: ein rosa Kleid (nicht: ein rosanes Kleid), eine türkisfarbene Markise (nicht: eine türkise Markise). Die üblichen Farben werden natürlich gebeugt wie ganz normale Adjektive: ein schwarzes Hemd, ein grüner Punkt, eine gelbe Markise.


Frage: Kann man „eine gute Tasse Kaffee“ trinken? Es gibt doch nur guten Kaffee, aber keine guten Tassen.

Albert Wenzel, München

Bastian Sick: Lieber Herr Wenzel, selbstverständlich gibt es auch gute Tassen. Die Annahme, alle Tassen seien schlecht, basiert auf einem tassenfeindlichen Vorurteil. Aber Spaß beiseite: Sie haben natürlich recht, wenn Sie sagen, dass sich das Adjektiv „gut“ auf den Kaffee bezieht. Wenn aber die Maßangabe (hier: eine Tasse) und die folgende Stoffbezeichnung (hier: Kaffee) als eine Einheit empfunden wird, dann kann das Adjektiv auch vor dieser Einheit stehen. Weitere erlaubte Beispiele dieser Art: ein kühles Glas Bier, ein neues Paar Hosen, eine edle Flasche Wein.


Frage: Hallo liebe Volle-Kanne-Redaktion, ich frage Ihren Gast, ob es ihm auch auffällt, wenn im Fernsehen gesagt wird: „Ende diesen Jahres“ statt „Ende dieses Jahres“. Meiner Meinung nach ist das falsch.

Jürgen Scholz, Gelsenkirchen

Bastian Sick: Und ob mir das auffällt, lieber Herr Scholz, auch darüber habe ich schon einmal etwas geschrieben: „Das Verflixte dieses Jahres“ hieß die Geschichte, nachzulesen im ersten Band der Reihe „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“. Korrekt heißt „Ende dieses Jahres“ wie auch „Im Sommer jenes Jahres“. Das männliche und das sächliche Pronomen „dieser“ und „dieses“ heißen im Genitiv gleichlautend „dieses“: Der Wagen dieses Mannes, die Mutter dieses Kindes. Für „jener“ und „jenes“ gilt dasselbe: das Glück jenes Augenblicks, der Besitzer jenes Hauses.

Bei anderen männlichen und sächlichen Pronomen ist es genauso: „seiner“ wird im Genitiv zu „seines“, nicht zu „seinen“: Er war sich seines Fehlers bewusst (nicht: seinen Fehlers – und schon gar nicht: Er war sich seinem Fehler bewusst.). Der gültige Sprachstandard ist hier eindeutig. Freilich kann sich der auch mal ändern. Vielleicht ist „diesen Jahres“ irgendwann korrekt. Einen Tages, wer weiß…


Frage: Kann man Adjektive wie „unerträglich“ steigern? Ich habe nämlich im „Heute Journal“ gehört: „Die Situation wurde noch unerträglicher.“

Joachim Stracke, Ibiza

Bastian Sick: Sprache ist ja zum Glück sehr dehnbar, in der Theorie ist vieles vorstellbar, und in der Praxis noch viel mehr zu finden! Ob das immer sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Ebenso wie die Frage nach der Schönheit bestimmter Wortschöpfungen. Das muss jeder für sich selbst beantworten. Ich kann dem Wort „unerträglich“ durchaus eine Steigerung zubilligen, denn manches, was mir unerträglich erscheint (zum Beispiel Presslufthammerlärm am frühen Morgen), wird durch Belästigungen überboten, die noch schwerer zu ertragen (und somit unerträglicher) sind. (Wenn zum Presslufthammerlärm noch das Jaulen einer Kreissäge hinzukommt.)


Frage: In einem „Tatort“-Krimi gab der Befragte an, nachdem er nach seinem Alibi gefragt worden war: „Ich habe gestaubsaugt.“ Inzwischen habe ich das auch in persönlichen Gesprächen mehrfach gehört. Ist das regional bedingter Sprachgebrauch oder einfach nur falsch? Wie ist es dann mit Kaffeetrinken und Zeitunglesen?

Karin Wilke

Bastian Sick: Liebe Frau Wilke, die Form „Ich habe gestaubsaugt“ gibt es tatsächlich, allerdings erfordert sie ein Objekt, also eine Sache, die man gestaubsaugt hat: Heute habe ich den Teppich gestaubsaugt, und morgen werde ich die Sitzgarnitur staubsaugen. Die allgemeine Tätigkeit des Staubsaugens wird in der Regel in zwei Wörtern beschrieben: Ich habe Staub gesaugt. Zum Beispiel: Ich habe in der ganzen Wohnung Staub gesaugt. Zwischen dem gestaubsaugten Teppich und dem Staubsaugen in der Wohnung besteht also ein kleiner grammatischer Unterschied. Die Frage nach dem Kaffeetrinken und dem Zeitunglesen ließe sich ähnlich beantworten, wenn man eine Sache kaffeetrinken oder zeitunglesen könnte, wenn man also sagen könnte: Ich habe zum Frühstück einen Espresso gekaffeetrunken und dazu die „Morgenpost“ gezeitunglesen.


Frage: In „Terra X“ (ZDF) heißt es immer wieder: „An den Ufern des Nil“. Ist das richtig? Müsste es nicht heißen: „An den Ufern des Nils“?

Ulla Thiele, Lauenstein

Bastian Sick: Liebe Frau Thiele, im Fall des zweiten Falles (und mit dem haben wir es hier zu tun) ist ein „s“ am Ende die Regel. In Deutschland misst man nach wie vor den Pegelstand des Rheins, und nicht den Pegelstand des Rhein. Bei zahlreichen Fremdwörtern wird das Genitv-s jedoch weggelassen: So hört und liest man gelegentlich vom Herrscher des Dschungel (statt: des Dschungels), von den Gelehrten des Islam (statt: des Islams) und von der Wiege des Rock’n’Roll (statt: des Rock’n’Rolls). Bei Firmennamen findet man es ebenso, und auch bei geografischen Namen fremdsprachiger Herkunft: bei der Mündung des Mississippi(s), bei den Bewohnern des Tschad(s) und an den Hängen des Kilimandscharo(s). Es gibt jedoch keine Regel, die besagt, dass ausländische Berge oder Flüsse grammatisch anders zu behandeln seien als deutsche. Ob an den Ufern des Nil oder an den Ufern des Nils, das ist vor allem eine Frage des persönlichen Stils. Für die Freunde meines Neffen Nils steht jedenfalls außer Frage, dass ich der Onkel des Nils bin.


Frage: Guten Morgen, meine Frage lautet: Heißt es „gestern hat die Sonne gescheint“ oder „gestern hat die Sonne geschienen“? Das ist nämlich immer wieder ein kleiner Streitpunkt in meiner Partnerschaft.

Saskia Jako, München

Bastian Sick: Liebe Frau Jako, dann will ich mich beeilen, diesen Streitpunkt zu beseitigen, damit in Ihrer Partnerschaft auf ewig die Sonne scheine und niemals mehr der Himmel weine. „Scheinen“ reimt sich zwar auf „weinen“, wird aber anders gebildet, nämlich unregelmäßig, also nicht „scheint, scheinte, gescheint“, sondern „scheint, schien, geschienen“. Es kommt immer wieder mal vor, dass regelmäßige Verben unregelmäßig gebildet werden und umgekehrt. Die Mehrheit der Deutschen sagt „gewunken“ statt „gewinkt“, dabei ist „winken“ ein regelmäßiges Verb: ich winke, ich winkte (nicht: ich wank) – folglich auch: ich habe gewinkt. Genau wie „hinken“: hinken, hinkte gehinkt. Und nicht etwa hinken, hank, gehunken.

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