Donnerstag, 18. April 2024

Der Despot, der aus dem Erdloch kam

Die Wahl des Wortes des Jahres 2003 ist entschieden: Das „alte Europa“ soll es sein. Doch wie so oft hat man zu früh abgestimmt. Das wahre Wort des Jahres kam erst kurz vor Weihnachten über uns; und es hielt seinen Einzug mit Pauken und Trompeten.

Rechtzeitig zur Weihnachtszeit haben die Amerikaner im Irak einen Coup gelandet, der die herben Verluste der letzten Monate augenblicklich vergessen machte. In einer fensterlosen Kammer unter einer verwahrlosten Lehmhütte fanden sie – nach neunmonatiger Suche – den geflohenen und untergetauchten Diktator des Irak, Saddam „Pik-Ass“ Hussein.

Damit hat der von christlichem Eifer erfüllte Präsident der Vereinigten Staaten der Welt eine Neufassung der Weihnachtsgeschichte geliefert, die sich in etwa so liest:

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von Präsident Bush ausging, dass alle Häuser im Lande durchsucht würden. Und diese Durchsuchung war die allergründlichste und geschah zu der Zeit, da Paul Bremer Statthalter in Babylonien war. Und jedermann ging, dass er den Gesuchten finde, ein jeder in seiner Stadt. Und sie fanden ihn unter einer Hütte aus Lehm, in einem Loch in der Erde versteckt.“

Passend zur Jahreszeit und als wolle er den Amerikanern eine besondere Freude machen, hatte Saddam sich auch noch einen Weihnachtsmann-Look zugelegt: Mit seinem grauen Rauschebart hätte er gut und gerne als Knecht Ruprecht durchgehen können.

Die Bilder des verhafteten Diktators und seiner letzten Zufluchtsstätte in Freiheit gingen um die Welt. Und durch die deutschsprachige Presselandschaft brach sich ein Begriff Bahn, der es innerhalb kürzester Zeit zu nie da gewesenem Ruhm brachte: das Erdloch. Staunend saß man da und vernahm die Nachrichten, in denen es vor Erdlöchern nur so wimmelte.

Bis zu jenem denkwürdigen Adventssonntag, der uns die Meldung von Saddam Husseins Verhaftung bescherte, waren Erdlöcher in der deutschen Presselandschaft nur selten zu finden. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn für gewöhnlich findet man in Erdlöchern nur Wespen, Würmer und Spinnen, manchmal auch von vorausschauenden Eichhörnchen vergrabene Nüsse. Wer sich tief durchs Pressearchiv wühlt, der stößt gelegentlich auf Erdlöcher, in denen Knochen oder gar eine ganze Leiche verbuddelt waren: „Die junge Frau … wurde erdrosselt, elendig in einem Erdloch verscharrt!“ („Bild!“-Zeitung). Ansonsten galten Erdlöcher bislang als unspektakulär und fristeten ein wenig beachtetes Dasein in der afrikanischen Wüste („Als sie uns sahen, verschwanden die Erdmännchen blitzschnell im Erdloch“) und unter Rasenteppichen: „Doch plötzlich stolperte der Isländer über ein Erdloch, fiel hin.“ („Bild“-Zeitung) Eingedenk der neuesten Erkenntnisse über Erdlöcher wird der Fußballspieler beim nächsten Sturz über einem solchen nachschauen, ob sich darin nicht ein international gesuchter Top-Terrorist verbirgt und er mal eben 25 Millionen Dollar nebenbei verdienen kann.

Die Gesellschaft für deutsche Sprache gab bekannt: Das Wort des Jahres 2003 lautet „das alte Europa“. Offensichtlich aber hat die Jury zu früh abgestimmt. Es ist immer dasselbe: Die Leute können einfach nicht bis zum Schluss abwarten. Wie jene Kritiker, die bei Konzerten grundsätzlich nur bis zur Pause bleiben und meinen, sie hätten genug gesehen, um umfassend darüber berichten zu können.

Das „Erdloch“ wurde zum Liebling der Berichterstatter. Mochten die Amerikaner Saddam gefunden haben; die Medien hatten das Erdloch erfunden: Das Ei des Kolumbus 2003! Es war aus keiner Meldung über den gefassten Despoten wegzudenken. Kaum jemand machte sich die Mühe, nach sprachlichen Alternativen zu graben. Nur selten las man vom „unterirdischen Versteck“ oder von einer „Grube“, einem „Raum“ oder einem „Bunker“.

Die explosionsartige Verbreitung von Erdlöchern in Nachrichtentexten konnte bei sensiblen Lesern schnell zu einem gewissen Überdruss führen. Doch das nahm man gerne in Kauf, denn der „Erdloch“-Überdruss löste den noch quälenderen Überdruss an Wörtern wie „Reformstreit“, „Maut-Desaster“, „Selbstmordattentat“ und „Küblböck“ ab. Bereits im Juli dieses Jahres wurde ein 51-jähriger Mann entdeckt, der angeblich zehn Jahre lang „im Erdloch“ gehaust hatte. Allerdings nicht im Irak, sondern in Brandenburg. Er selbst gab zwar zur Auskunft, er habe in einer „Erdhöhle“ gewohnt. Dies hinderte die Presse aber nicht, aus der Höhle ein Loch zu machen und das Wort millionenfach abzudrucken. Offenbar klingt „Erdloch“ schauriger, gruseliger und ekelerregender als „Erdhöhle“ oder „Grube“. Im Nachhinein betrachtet war dieser Fall eine Art journalistischer Testlauf für Saddam Hussein. Wobei das Brandenburger Erdloch schnell wieder in Vergessenheit geriet. Mit Saddam Husseins Erdloch hingegen ist dem deutschen Journalismus ein sprachlicher Coup gelungen, der Bestand haben wird.

So wie die „Titanic“ mit dem Eisberg, Napoleon mit Waterloo, Nixon mit Watergate, Clinton mit dem „Oral Office“ und Boris Becker mit der Wäschekammer, so wird Saddam Hussein im kollektiven Gedächtnis für alle Zeiten mit dem Erdloch verbunden bleiben.

In diesem Sinne: Ihnen allen ein gesegnetes Weihnachten, Friede auf Erden – und auch darunter, in allen Erdlöchern dieser Welt!

(c) Bastian Sick 2003


Diese Kolumne ist unter dem Titel „Wie das alte Europa von einem Erdloch verschluckt wurde“ auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.

Lesen Sie auch:

Das Wunder des Genderns

Kein sprachliches Thema hat die Gemüter in den letzten Jahren so sehr bewegt und erhitzt …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.