Donnerstag, 18. April 2024

Der traurige Konjunktiv

Am Sonntag gehen Vater und Sohn regelmäßig in den Sprachzoo. Dort schauen sie sich vom Aussterben bedrohte grammatische Phänomene an. Am liebsten mögen sie den Konjunktiv. Gerne hülfen sie ihm, denn sie haben Angst, er stürbe aus.

Vergnügt schlendern Vater und Sohn durch den Sprachzoo. Ehrfürchtig verharren sie vor dem Käfig mit der Aufschrift „Genitiv – Bitte nicht erschrecken!“, spazieren weiter zum „Ph“-Gehege, wo sie so selten gewordene Wörter wie „Photographie“ und „Telephon“ bewundern, lassen sich vom Wärter erklären, dass es mit der Fortpflanzung der beiden letzten Eszetts auch in diesem Jahr wieder nicht klappen werde, und kommen schließlich vor dem Käfig mit dem Konjunktiv an. „Der sieht immer so traurig drein“, sagt der Sohn voller Mitgefühl, „der kann einem richtig Leid tun!“ – „Er würde sich bestimmt wohler fühlen, wenn es jemanden geben würde, der sich mit ihm unterhalten würde“, sagt der Vater. Daraufhin stößt der Konjunktiv einen herzerweichenden Klagelaut aus. Der Sohn nickt und sagt: „Vielleicht fühlte er sich tatsächlich wohler, wenn es jemanden gäbe, der sich mit ihm unterhielte.“ Da hebt der traurige Konjunktiv den Kopf, schaut den Jungen an und lächelt dankbar.

„Eine hübsche Geschichte“, sagt mein Freund Henry, „aber mich stört das Happy End. Das ist mal wieder typisch für deine Gefühlsduselei, geht aber an den Realitäten völlig vorbei. Tatsache ist doch: Der Konjunktiv ist vom Aussterben bedroht. Er liegt quasi in den letzten Zügen. Wenn du beschrieben hättest, wie Vater und Sohn vor einem leeren Käfig stehen, weil der Konjunktiv vorige Woche gestorben ist, dann wäre die Geschichte glaubwürdiger.“ Ich bin nicht immer Henrys Meinung, manches sieht er ein wenig zu drastisch, aber in einem Punkt hat er Recht: Der Konjunktiv macht keine großen Sprünge mehr.

Dabei kann man nun wirklich nicht behaupten, der Konjunktiv sei eine unbedeutende Randerscheinung in der deutschen Sprache. Die Grammatikwerke widmen ihm seitenlange Kapitel mit zahlreichen Unterkapiteln und weisen ihm nicht weniger als drei wichtige „Funktionsbereiche“ zu, in denen er zum Einsatz kommt.

Da wäre zum einen der „Wunsch“-Bereich („Er lebe hoch!“, „Mögest du hundert Jahre alt werden!“), zum zweiten der Bereich des Unmöglichen und des Unter-bestimmten-Bedingungen-doch-Möglichen, auch Irrealis genannt („Ich an deiner Stelle hätte es anders gemacht“, „Wir wären schneller fertig, wenn du mal mit anfassen könntest!“), und zum dritten der Bereich der indirekten Rede.

Der Bereich „Wunsch“, der auch jede Form der Aufforderung mit einschließt, ist noch relativ überschaubar und verursacht nicht allzu große Probleme. Man braucht nur ein Kochbuch aufzuschlagen, schon steckt man mitten drin: „Man nehme drei Eier, schlage sie auf, trenne das Eiweiß vom Dotter und gebe das Eiweiß in einen sauberen, fettfreien Rührtopf.“

Der zweite Bereich hingegen ist alles andere als überschaubar. Dort hat man es zudem nicht nur mit einer Form des Konjunktivs zu tun, sondern gleich mit zweien. Man unterscheidet zwischen Konjunktiv I (er habe, sie sei, du werdest) und Konjunktiv II (er hätte, sie wäre, du würdest). Der Konjunktiv II ist immer dann gefragt, wenn es gilt, etwas Hypothetisches zum Ausdruck zu bringen („Hätte ich deine Figur, könnte ich alles essen, was ich wollte!“), einen irrealen Vergleich anzustellen („Sie tut ja gerade so, als ob sie schüchtern wäre!“) oder Zweifel anzumelden: „Zwar hieß es, die Polizei hätte jeden Winkel im Umkreis von zehn Kilometern abgesucht, aber die Angehörigen gaben sich damit nicht zufrieden und machten sich selbst auf die Suche.“

Eine nach wie vor wesentliche Rolle kommt dem Konjunktiv in der indirekten Rede zu. Tagtäglich sind im deutschsprachigen Raum ganze Heerscharen von Journalisten damit beschäftigt, die Worte von Politikern, Managern, Prominenten und Sachverständigen in indirekte Rede umzuschreiben, und dabei wird aus jedem Indikativ („Ich bin überzeugt, dass wir dieses Spiel gewinnen werden!“) ein Konjunktiv („Er sagte, er sei überzeugt, dass seine Mannschaft dieses Spiel gewinnen werde.“) Da die Arbeit von Journalisten zum überwiegenden Teil darin besteht, die Worte von anderen mit ihren eigenen wiederzugeben, wimmelt es in Nachrichtentexten von Konjunktiven. Ich bin fast sicher, wenn Sie eine Zeitung nähmen und diese ausschüttelten, so fielen mehr Konjunktive als Indikative heraus. Die Beherrschung des Konjunktivs ist daher eine wesentliche Voraussetzung für eine Laufbahn im Journalismus. Oder – konjunktivisch ausgedrückt – sie sollte es sein.

Henry überrascht mich gelegentlich mit ganz erstaunlichen Formulierungen. Da sitzen wir zusammen im Café und unterhalten uns über einen gemeinsamen Freund, und plötzlich sagt er: „Säßen wir jetzt nicht hier bei Kaffee und Kuchen, riefe ich ihn sofort an.“ Zweimal Konjunktiv II in einem gesprochenen Satz! Mir fällt vor Begeisterung die Kuchengabel aus der Hand. „Du meinst, würden wir jetzt nicht hier sitzen, würdest du ihn sofort anrufen?“, frage ich nach. Henry sieht mich streng an: „Nein, ich meine säßen und riefe, du hast mich genau verstanden.“ – „Spräche jeder so wie du, lieber Henry, schwämmen mir als Kolumnisten die Felle davon“, erwidere ich augenzwinkernd. „Schwämmen oder schwömmen?“, fragt Henry, und schon stecken wir mitten im Sumpf der unregelmäßigen Verben. „Büke der Bäcker sein Brot mit mehr Gefühl, verdürbe es nicht so schnell“, sagt Henry. „Spönnest du weniger, so stürbe ich nicht gleich vor Lachen!“, entgegne ich. „Hübe jeder seinen Müll auf, gewönne die Stadt an Lebenswert“, kontert Henry. „Gnade!“, rufe ich, „das ist ja nicht mehr auszuhalten! Hübe heißt es ganz bestimmt nicht!“ – „Das ist veraltet“, sagt Henry, „aber was alt ist, muss nicht gleich falsch sein. Kennte ich noch mehr alte Konjunktive, so würfe ich sie liebend gerne ins Gespräch ein!“

Mein Freund Henry ist selbstverständlich eine Ausnahmeerscheinung. In der gesprochenen Sprache ist der Konjunktiv fast ausschließlich in der „würde“-Form zu finden: „Ich würde gerne am Freitag kommen“ statt „Ich käme gerne am Freitag“. „Man erzählt sich, sie würde in einer Bar arbeiten“ statt „Man erzählt sich, sie arbeite in einer Bar“. „Das würde ich dir übel nehmen“ statt „Das nähme ich dir übel“.

Die Verwendung der „würde“-Form ist zwar weit verbreitet, gilt allerdings als umgangssprachlich. Bis auf einige Ausnahmen: Die von Henry so geschätzten veralteten Konjunktiv-II-Formen dürfen standardsprachlich durch eine Konstruktion aus „würde“ und Infinitiv ersetzt werden. „Ich würde dir ja helfen, wenn du mich nur ließest“ ist erlaubt, da kein Mensch mehr „Ich hülfe dir“ sagte. Oder sagen würde. Da haben wir schon gleich die zweite Ausnahme: Wenn der Konjunktiv II mit der Form des Präteritums übereinstimmt (was häufig der Fall ist), ist die Umschreibung mit „würde“ zulässig, allein schon, um Missverständnisse zu verhindern. Denn Verständlichkeit ist stets die oberste Maxime, dem hat sich auch der Konjunktiv unterzuordnen. Ein Beispiel: „Da sie sich nie und nimmer für mich interessierte, spielt es keine Rolle, was ich denke.“ Um klarzumachen, dass hier nicht die Vergangenheit gemeint ist, sondern eine unwahrscheinliche Möglichkeit, ist es angebracht, sich der Hilfskonstruktion mit „würde“ zu bedienen: „Da sie sich nie und nimmer für mich interessieren würde, spielt es keine Rolle, was ich denke.“

„Nichts gegen Würde in der Sprache“, sagt Henry, „aber zu viel würde kann die Sprache verunstalten!“ – „Würde man heute all diese Konjunktivformen in der gesprochenen Sprache gebrauchen, würde sich das doch recht seltsam anhören – altmodisch eben, verschroben.“ – „Nein“, widerspricht Henry, „wenn alle den Konjunktiv gebrauchten, hörte es sich ganz normal an, weil sich unsere Ohren daran gewöhnten.“

Bei unserem nächsten Treffen gebe ich Henry die überarbeitete Geschichte vom Vater und Sohn im Sprachzoo zu lesen. Dort heißt es nun: „Wären Vater und Sohn an diesem Sonntag in den Sprachzoo gegangen, hätten sie sich sehr gewundert. Denn sie hätten den Käfig mit dem Konjunktiv leer vorgefunden. Besorgt hätten sie sich an den Wärter gewandt und ihn gefragt, ob der traurige Konjunktiv womöglich gestorben sei. Doch der Wärter hätte sie beruhigt. Er sei letzte Nacht ausgebrochen, hätte er ihnen berichtet, und laufe nun Amok durch die Stadt. Der Polizei gelinge es nicht, ihn einzufangen, wann immer sie sich ihm nähere, springe er auf und davon. Vater und Sohn hätten sich darüber sehr gefreut und gehofft, dass es ihm gelänge, neue Freunde zu finden, denn dann begönne für ihn ein völlig neues Leben.“ – Henry blickt mich kopfschüttelnd an: „Du bist unverbesserlich! Und vollkommen würde-los!“

(c) Bastian Sick 2004


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 2“ erschienen.

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