Mittwoch, 27. März 2024

Teechen oder Käffchen?

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Manche Dinge versucht man sich schönzureden, um sie zu ertragen. Andere versucht man kleinzureden. Dann muss man sie weniger fürchten. Denn was können ein oder zwei Bierchen und ein paar Schnäpschen schon ausrichten? In diesem Sinne: Prösterchen!

Das Picknick am See hatte ganz beschaulich begonnen. Henry und ich knabberten Brot und Käse und tranken dazu Rotwein aus Gläsern. Später lasen wir Zeitung oder sahen den Schwänen beim lautlosen Dahingleiten zu. Nach einiger Zeit erhielten wir Gesellschaft: Ein paar Meter weiter ließ sich eine Gruppe von fünf Frauen um die Dreißig nieder. Im Handumdrehen war die Luft von quirligem Stimmengewirr erfüllt. „Wer will denn was von dem Salätchen?“, schallte es zu uns herüber. „Probier mal die Nüdelchen, die sind köstlich!“, tönte eine zweite Stimme. „Sind noch Gürkchen da?“, war eine andere zu vernehmen. „Wie wär’s jetzt mit einem Sektchen?“, flötete kurz darauf eine weitere. „Gerne, aber wirklich nur ein klitzekleines Gläschen!“, wurde ihr geantwortet.

Henry stöhnte leise: „Alle meine Gänschen sind da!“ — „Wo kommen die denn auf einmal  her?“, fragte ich verwundert. „Ich schätze mal, die hat uns dein Verleger geschickt“, raunte Henry mit einem zynischen Grinsen, „damit du Stoff hast für ein neues Kapitel — über infantiles Verniedlichungsgebrabbel!“ — „Du meinst Stöffchen für ein neues Kapitelchen?“, fragte ich nach. „Genau!“, entgegnete Henry, „die Welt dieser fröhlichen  Damen  dass deren Welt ausschließlich aus Dingen besteht, die auf -chen enden.“

„Ich krieg das nicht auf!“, jammerte in diesem Moment eine der Frauen mit auffallend rotem Haar und hielt die Flasche einer der anderen Frauen hin: „Versuch du’s mal!“ Die andere, eine Brünette, deutete in unsere Richtung und sagte: „Frag doch die Herren da drüben! Die helfen bestimmt gerne!“ — „Gute Idee!“, meinte die Rothaarige, erhob sich von der Decke und bewegte sich mit federndem Gang auf uns zu. „Hallöchen, Jungs! Wir könnten eure Hilfe brauchen!“ Henry richtete sich auf: „Ihr bekommt das Fläschchen nicht auf? Kein Problemchen! Nur her damit, ich mach das schon!“ Ein „Momentchen“ später gab es einen Plopp, ein paar Spritzerchen auf die Hose, ein begeistertes Quieken seitens der Rothaarigen, gefolgt von einem glücklichen „Supi! Dankeschöni!“ — „Gerni!“, entgegnete Henry mit einer Beherrschtheit, für die ich ihn nur bewundern konnte. „Ich war mit meinem Urteil vorhin etwas vorschnell“, raunte er dann in meine Richtung, „es gibt in ihrer Welt nicht nur Dinge auf -chen, sondern auch noch welche auf -i!“ Ehe unsere Nachbarinnen auf die Idee kommen konnten, uns zu ihrem Umtrunk oder Umtrünkchen einzuladen, rafften wir unsere Sachen zusammen und ergriffen die Flucht. „Tschüsselchen!“, rief uns die Rothaarige nach. Wir winkten wortlos zurück. Als wir den Weg erreicht hatten, konnten wir noch hören, wie die fünf einander vergnügt zuprosteten: „Stößchen!“, schallte es über die Wiese.

Es ist ein durchaus verständlicher Vorgang, wenn man sich gewisse Dinge schönzureden versucht. Ein vielleicht nicht ganz so verständlicher, aber keinesfalls weniger geläufiger Vorgang ist es, sich Dinge kleinzureden. Durch sprachliche Verkleinerung verliert manches seinen Schrecken. Die gemeine hüftverstärkende Praline beispielsweise klingt weniger kalorienreich, wenn man sie sich als „Pralinchen“ einverleibt. Ein Eckchen hiervon, ein Ideechen davon, das fällt buchstäblich nicht ins Gewicht. Und wer anstelle von einem Bier nur ein Bierchen bestellt, der kann sich sogar noch ein Schnäpschen genehmigen, ohne das Gefühl haben zu müssen, etwas wirklich Alkoholisches zu sich zu nehmen. Wenn meine Nachbarin mich fragt, ob ich während ihrer Abwesenheit ihre „Zimmerpflänzchen und die Blümchen auf dem Balkon“ gießen könne, so treibt sie dabei vermutlich die Vorstellung an, die Bitte würde weniger lästig erscheinen, wenn sie ihre Pflanzen und Blumen zu Pflänzchen und Blümchen verkleinert. In meinem Wörterbüchlein wird erklärt, dass ein so genanntes Diminutiv (eine Verkleinerungsform) oft „emotionale Konnotationen hat und auch als Koseform gebraucht“ wird. Vielleicht hat meine Nachbarin ihre Pflänzchen und Blümchen auch einfach nur ganz schrecklich lieb.

Ein Diminutiv kann auch eine ironisierende Wirkung haben, so wie bei „Dir werd ich’s zeigen, Bürschchen“, „Mit dem hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen“ und „Da habe ich wohl noch ein Wörtchen mitzureden“.

Im Laufe der Sprachentwicklung hat das eine oder andere Diminutiv eine Bedeutung angenommen, die nur noch entfernt mit dem Wort zu tun hat, aus dem es gebildet wurden. Das Wort „Grübchen“ kommt zwar unbestreitbar von Grube, ist aber nicht gleichbedeutend mit „kleine Grube“ — wer würde Grübchen schon als „kleine Gesichtsgruben“ bezeichnen? Dass wir Ohrläppchen haben, impliziert die Tatsache, dass es eigentlich auch Ohrlappen geben müsste. Bei Elefanten vielleicht. Wer Plätzchen backt, der backt nicht etwa kleine Plätze. Wer schon mehrere Knöllchen kassiert hat, braucht nicht die ganz große Knolle zu fürchten. Und Fältchen haben selbstverständlich nicht das Geringste mit Falten zu tun, das wird Ihnen jede Kosmetikerin unter Eid  bestätigen!

Von einigen Wörtern ist sogar nur noch die Verkleinerungsform erhalten. Das Wort „Mädchen“ zum Beispiel war mal die Verniedlichung des Wortes „Maid“, von dessen Existenz man gar nichts mehr wüsste, würde im Radio nicht ab und zu noch mal Tony Marshalls 70er-Jahre-Schlager „Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit — hoja hoja ho!“ gespielt. Und das alte Wort Mär, welches Nachricht, Kunde bedeutete, wäre ebenfalls  gänzlich in Vergessenheit geraten, würden wir nicht regelmäßig zur Weihnachtszeit durch das Martin-Luther-Lied daran erinnert: „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär.“ Von der großen Mär ist heute nur noch das kleine Märchen geblieben. Auch das „Kaninchen“ gibt es nur noch in klein. Das große „Kanin“ ist bei uns seit langem ausgestorben. Die Holländer haben es seinerzeit immerhin noch in die Neue Welt exportiert: Das Konijn wurde Namensgeber der New Yorker Halbinsel Coney Island, die demnach ursprünglich eine Kanin(chen)insel war.

Des Kaninchens großer Bruder, der Hase, ist zwar immer wieder mal von Ausrottung bedroht, hat sich aber zumindest in der Sprache der Verliebten einen unsterblichen Platz ergattert: als Hasi, Häschen, Hasilein, Häslein, Häsel und — als biologisch äußerst bemerkenswerte Kreuzung — als Hasimaus. Und auch der Bär — eigentlich ein furchteinflößendes, massiges Raubtier — rangiert in seiner verkleinerten Form als Bärchen unter den beliebtesten Kosenamen ganz weit vorn, ungefähr gleichauf mit dem Mäuschen.

An dieser Stelle wäre vielleicht ein Quentchen mehr Sachlichkeit angebracht. Oder ein Quäntchen. Das Quentchen schreibt sich nach den neuen Regeln der Rechtschreibung nämlich mit einem „ä“, weil es von vielen offenbar als Verkleinerung des lateinischen Wortes Quantum oder Quant verstanden wird, welches wiederum die semantische Grundlage der Quantenphysik bildet — und des James- Bond- Abenteuers „Ein Quantum Trost“. Tatsächlich geht das Quentchen aber auf das Wort Quent zurück, eine Bezeichnung für eine alte Gewichtseinheit. Ein Quent war der fünfte Teil (von lateinisch quintus) eines Lots und entsprach 3,65 Gramm. Das war nicht viel, sodass man schon ein „chen“ anhängen musste, um das Quent überhaupt wahrzunehmen.

Eine andere Einheit für etwas sehr Kleines ist das Dötzchen, auch Dötzken oder Dötzeken genannt. Es kommt aus dem Rheinland und geht zurück auf das Wort „Dotz“. Ein Dotz war mal ein deutsches Wort für Punkt. Das englische „dot“, das sich heute vor jedem „com“ befindet, ist damit verwandt. Ein I-Dötzchen war also ein I-Punkt, ein sehr kleiner Punkt, ein Pünktchen gewissermaßen, und weil das I einst der erste Buchstabe war, den man im Schreibunterricht lernte, wurden die Schulanfänger I-Dötzchen genannt: I-Pünktchen. Darüber hinaus hat das Rheinische noch jede Menge andere köstliche Verniedlichungsformen zu bieten. Berühmt (und bei allen Nicht-Rheinländern gefürchtet) sind zum Beispiel die Bützchen oder Bützje (= Küsschen), die im Karneval genau wie die berühmte Kamelle ziemlich wahllos in die Menge geworfen werden.

Ein besonders entzückendes Diminutiv ist das rheinische Wort für Rosenkohl: Poppeköchekäppesche. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Auch andere Dialekte haben ihre ganz speziellen Verkleinerungsformen. Im Schwäbischen und im Badischen wünscht man sich „Gut’s Nächtle“ und verabschiedet sich mit einem „Adele!“ Am Niederrhein kauft man die Zeitung am Büdchen (Kiosk), verputzt mittags ein Frikadellchen und schleckt bei schönem Wetter das eine oder andere Bällchen (eine Kugel Eis). So weit, so putzig.

Bedenklich wird die Sache ja erst, wenn sie zum Sächelchen wird; wenn man etwa zum Frühstück ein Eichen angeboten bekommt. Für Henry ist dann definitiv Schluss. „Hör ich Eichen, muss ich weichen!“, lautet sein Motto für den Morgen danach. Henrys Toleranz für sprachlichen Firlefanz hat klare Grenzen. An denen ist letztlich wohl auch seine Ehe zerschellt. Wenn seine Frau sich nach eigenen Angaben ein entzückendes Paar Schühchen oder ein süßes kleines Handtäschchen gekauft hatte, dann erwartete er, dass die vermeintlichen Schühchen auch deutlich billiger waren als normale Schuhe, und das süße Täschchen durfte nicht halb so viel kosten wie eine ausgewachsene Tasche. Dem war natürlich nie so. Zwar behauptete seine Frau stets, ein tolles Schnäppchen gemacht zu haben, aber Henry sah das anders. „Bei diesen Preisen ist das Wort Schnäppchen völlig unangemessen. Es müsste Schnappen heißen!“, fand er.

Als Dank fürs Blumengießen lädt mich meine Nachbarin ein paar Tage später zu frisch gebackenem Kuchen in ihre Wohnung. „Teechen oder Käffchen?“, fragt sie, kaum dass ich Platz genommen habe, womit sie mich in eine unangenehme Lage bringt, denn ich weiß im Moment wirklich nicht, wen ich lieber haben soll: das süße, knuddelige Teechen oder das niedliche, schnuffige Käffchen. Weil ich mich nicht entscheiden kann, sage ich: „Fürs Erste hätte ich einfach nur gern ein Glas Wasser.“ — „Ein Wässerchen, natürlich, kommt sofort“, sagt meine Nachbarin fröhlich. Na supi, denke ich, alles klärchen!

(c) Bastian Sick 2009


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.

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