Donnerstag, 18. April 2024

Voll und ganz verkehrt

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Ja, ja, der Eiffelturm: Wächst jeden Sommer um ganze oder volle 15 Zentimeter.

Wer ganze Arbeit leistet, der hat auch Recht auf vollen Lohn. Doch wer Vollzeit arbeitet, arbeitet kaum die ganze Zeit. Wer ganze Stadien füllt, der füllt nicht volle Stadien, sondern leere. Mancher hat volle acht Jahre studiert, ein anderer ganze acht Jahre. Offenbar sind voll und ganz nicht voll und ganz dasselbe.

Es gibt in unserer Sprache viele Wörter, die auf den ersten Blick dasselbe zu bedeuten scheinen, die aber bei genauerer Betrachtung alles andere als gleichbedeutend sind. So wie „scheinbar“ und „anscheinend“ oder „gut“ und „schön“. Zu diesen Wörtern gehören auch „voll“ und „ganz“. Zwar können sie durchaus dasselbe, nämlich „vollständig“ oder „restlos“, bedeuten, so wie in diesen Beispielen:

„Er war wieder ganz (= vollständig) gesund.“
„Der Bus war voll (= vollständig) besetzt.“

Und doch sind „voll“ und „ganz“ nicht beliebig austauschbar. In der Standardsprache klingt die Aussage „Er war wieder voll gesund“ ungewohnt. Dasselbe gilt für „Der Bus war ganz besetzt“. Was nicht heißen soll, dass nichts „ganz besetzt“ sein könne. Im Jahre 50 vor Christus war immerhin Gallien ganz besetzt. Ganz? Nun, wir wissen es besser. Auf keinen Fall aber war Gallien „voll besetzt“, auch wenn das Land voller Römer war.

Wenn der Chef auf der Betriebsfeier mit lustigen Geschichten und Gesangeinlagen glänzt, wie er sie schon lange nicht mehr zum Besten gegeben hat, dann raunen sich die Mitarbeiter zu: „Heute ist er wieder ganz der Alte!“ Es ist nicht davon auszugehen, dass sie sich sagen: „Heute ist er wieder voll der Alte.“ Vorstellbar wäre höchstens: „Mann, ist der Alte heute wieder voll!“

Es besteht also ein Unterschied zwischen „voll“ und „ganz“. Das ist uns im Grunde auch allen klar, meistens entscheiden wir uns intuitiv für das richtige Wort. Aber eben nicht immer. In einigen Fällen, wenn „voll“ und „ganz“ zu Adjektiven umgerüstet und vor Zahlwörter gestellt werden, um die Vollheit oder Ganzheit einer Menge anzuzeigen, dann wird es schwierig, dann lässt uns unser Sprachgefühl bisweilen im Stich.

Heißt es nun: Die Zahnarztbehandlung dauerte volle drei Stunden – oder ganze drei Stunden? Viele glauben, dass hier kein Unterschied bestehe, doch das ist nicht ganz richtig, denn es gibt eine nicht unerhebliche Nuance in der Bedeutung. Wenn die Behandlung „volle drei Stunden“ dauerte, dann dauerte sie „nicht weniger als“ drei Stunden. Man könnte auch von „gut drei Stunden“ sprechen. „Ganze drei Stunden“ sind zwar nicht weniger als volle drei, doch werden sie anders bewertet, denn „ganze drei“ bedeutet „nicht mehr als drei Stunden“.

Der Unterschied wird im folgenden Beispiel deutlicher: „Hunderte sind bei dem Grubenunglück verschüttet worden. Ganze drei Bergarbeiter konnten gerettet werden.“ Gemeint ist: Leider gab es nicht mehr als drei Überlebende. Das Wort „volle“ wäre an dieser Stelle unpassend; dafür passt es wiederum im nächsten Satz: „Die Rettungsmannschaften brauchten volle sechs Tage, um das Wasser abzupumpen.“ Denn „volle“ steht hier für „nicht weniger als“.

„Bei großer Wärme dehnt sich das Metall aus und der Turm wächst um ganze 15 Zentimeter in die Höhe“, konnte man vor einiger Zeit in der „Neuen Post“ über das rätselhafte Sommerwachstum des Eiffelturms lesen. Die mathematisch erstaunliche Schlussfolgerung des Redakteurs („Dann ist er nicht mehr 324 Meter, sondern 339 Meter hoch“) verschaffte dem Artikel prompt einen Platz im „Hohlspiegel“ („Spiegel“ 11/2006). Die Aussage ist aber noch unter einem anderen Aspekt interessant: Sind es denn nun wirklich „ganze“ 15 Zentimeter, oder womöglich „volle“? „Ganze 15 Zentimeter“ bedeutet „nicht mehr als 15 Zentimeter“; und wer um diese Bedeutung weiß, für den hört es sich so an, als würde das Wachstum des Eiffelturms als mickrig abgetan. „Volle“ wäre treffender, da es „nicht weniger als“ bedeutet und 15 Zentimeter gewachsenes Metall immerhin eine ganze Menge sind.

Dass „voll“ mehr sein kann als „ganz“, bekommt man gelegentlich am eigenen Leibe zu spüren. Ist es wirklich eine Auszeichnung, als „ganz in Ordnung“ zu gelten? Das klingt eher nach einer drei minus. Angenehmer scheint es doch, „voll in Ordnung“ zu sein.

(c) Bastian Sick 2006


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.

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Ein Kommentar

  1. Rainer Göttlinger

    „Umsonst” ist auch eines dieser Wörter, weil es manchmal für kostenlos steht und manchmal für vergeblich: „Er hat es umsonst gemacht“ vs. „Er hat sich umsonst bemüht“. Und wer kennt nicht den alten Kalauer „Ich war kostenlos auf der Schule und du umsonst.”

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