Mittwoch, 17. April 2024

Von Tacheles, Schlamassel, Zockern und Ganoven

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Jüdische Einwanderer bei der Ankunft in New York, Plakat aus dem Jahr 1917

Die deutsche Sprache hat aus vielen Quellen geschöpft. Eine davon war das Jiddische, die Sprache der europäischen Juden. Ohne Jiddisch könnten wir weder schachern noch zocken. Niemand hätte Massel oder Chuzpe, es gäbe weder Pleiten noch Zoff. Ohne Jiddisch könnten wir Betrug nicht für Schmu halten und Unfug nicht für Stuss.

Am Samstag war Felix bei mir, der Sohn meiner Schulfreundin Alexandra. „Vor deiner Einfahrt steht ein weißer BMW“, stellte er fest. „Ist das etwa deiner?“ – „Gott behüte!“, rief ich. „Der gehört einem Nachbarn von gegenüber. Mit dem muss ich wohl mal Tacheles reden!“ Felix machte ein erstauntes Gesicht: „Was ist Tacheles?“, fragte er. Ich holte eine Packung Erdbeereis aus dem Kühlschrank und erwiderte: „Tacheles bedeutet Klartext reden, jemandem unverblümt die Meinung sagen. Es kommt aus dem Jiddischen.“ Da er davon anscheinend noch nie gehört hatte, erklärte ich: „Jiddisch ist der Name der Sprache der europäischen Juden. Es entwickelte sich aus dem Mittelhochdeutschen und enthält neben deutschen auch zahlreiche hebräische und aramäische Wörter. Jiddisch ist eine eigenständige Sprache, die zur Familie der germanischen Sprachen gehört – wie Deutsch, Englisch, Niederländisch und Schwyzerdütsch.“ Felix war beeindruckt: „Cool!“, sagte er und fragte nach: „Sprechen die Juden das auch heute noch?“ – „Man schätzt, dass Jiddisch heute noch von rund einer Million Menschen gesprochen wird“, erwiderte ich. „Das ist vielleicht nicht überwältigend viel, aber es gibt etliche Sprachen, die von weniger Menschen gesprochen werden. In sechs Ländern Europas ist Jiddisch eine anerkannte Minderheitensprache, aber die größte jiddische Sprachgemeinde befindet sich heute außerhalb Europas, in den USA.“

„Kennst du noch mehr jiddische Wörter?“, wollte Felix wissen. Ich nickte: „Und ob! Es gibt in unserer Sprache nämlich eine ganze Menge davon. So wie Latein und Griechisch, Französisch, Italienisch, Englisch und Arabisch hat auch das Jiddische die deutsche Sprache beeinflusst. Kennst du das Wort ,kess‘? Das bedeutet ,flott‘, ,schneidig‘, ,vorwitzig‘. Kess bedeutet ,acht‘ und steht für den achten Buchstaben im hebräischen Alphabet, mit dem das hebräische Wort für Weisheit beginnt. Ein anderes jiddisches Wort, das jeder kennt, ist ,mies‘. Es bedeutet ,schlecht‘. Vielleicht hast du auch schon mal das Wort ,Tinnef‘ gehört, das steht für Plunder, wertloses Zeug, überflüssigen Kram. Möglicherweise kennst du auch ,Schmu‘, das ist ein Handel, bei dem man übers Ohr gehauen wurde, und ganz sicher kennst du ,Stuss‘, das ,Unsinn‘, ,dummes Zeug‘ bedeutet. – „Na klar!“, sagte Felix grinsend, „Meine Mutter sagt mir oft, ich soll ihr keinen Stuss erzählen.“ Während wir unser Eis löffelten, erzählte ich Felix alles, was ich über jiddische Wörter wusste.

Es gibt jiddische Wörter, denen man ihre Herkunft noch deutlich ansieht, wie „Chuzpe“ und „meschugge“. Wer Chuzpe hat, ist unverschämt und dreist, und wer meschugge ist, der hat nicht alle Tassen im Schrank.

Doch vielen jiddischen Wörtern sieht man ihre Herkunft nicht mehr an und hält sie möglicherweise für urdeutsch.

Das Wort „verkohlen“ zum Beispiel. Das hat nichts mit Kohle oder Kohl zu tun, sondern mit dem jiddischen Wort „kol“, das „Gerücht“ bedeutet. Jemanden verkohlen bedeutete also ursprünglich, jemandem ein Gerücht unter die Nase reiben. Und wenn jemand gründlich „eingeseift“ wird, dann ist dabei nicht unbedingt Seife im Spiel. Das alte Wort „beseiwelen“ geht auf das jiddische „sewel“ zurück, das „Mist“ und „Kot“ bedeutet. Wer „eingeseift“ wird, der wird im wörtlichen Sinne mit Kot beschmiert, im übertragenen Sinne beschwatzt, betrogen.

Vielleicht kennst du den Ausruf „So ein Schlamassel!“. Auch wenn es sich so anhört, als steckte man bis zum Hals im Schlamm, so hat es mit dem deutschen Wort Schlamm nichts zu tun. Schlamassel bedeutet Unglück, es ist das Gegenteil von Massel, dem jiddischen Wort für Glück. Wer Massel hat, der hat Glück, und wer kein Glück hat, nun ja, der hat Pech oder eben „einen schönen Schlamassel“.

Oft findet man im Wörterbuch hinter einem Wort jiddischen Ursprungs den Vermerk „Rotwelsch“ oder „Gaunersprache“. Das sind Bezeichnungen für den Jargon des sogenannten fahrenden Volkes, zu dem neben den Sinti und Roma über viele Jahrhunderte auch die Juden gehörten, da sie von der christlichen Gesellschaft ausgegrenzt waren und weder Landwirtschaft betreiben noch einen Handwerksberuf ausüben durften. Beim fahrenden Volk gab es Musikanten, Kesselflicker Kaufleute und Tauschhändler, die socher betrieben, das jiddische Wort für Handel, aus dem das Wort schachern wurde. Außerdem gab es Zocker, Schnorrer und Gauner. Zocken ist das jiddische Wort für Kartenspielen, ein Zocker ist also ein Glücksspieler. Ein typisches Instrument der Bettelmusikanten war die Schnarre, auf Jiddisch auch Schnorre genannt. Ein Schnorrer war ursprünglich also jemand, der mittels einer Schnarre um Geldgaben bat. Und das Wort „Gauner“ kommt vom Wort „Jonier“, der jiddischen Bezeichnung für einen Griechen. Infolge der Türkenkriege im 15. Jahrhundert waren viele Griechen heimatlos geworden und hatten sich dem fahrenden Volk angeschlossen. Dort handelten sie sich den Ruf ein, beim Kartenspielen nicht immer ehrlich zu sein. Das rotwelsche „jowonen“ bedeutete „falsch spielen wie ein Grieche“. Im Laufe der Zeit wurde das Wort „Jonier“ zu „Joner“, „Jauner“ und schließlich zu „Gauner“.

Vom Gauner ist es (zumindest im Alphabet) nicht weit zum Ganoven. Auch der kommt aus dem Jiddischen. Das hebräische Wort „gannaw“ für „Dieb“ wurde im Jiddischen zu Ganeff und Ganove.

Wenn Ganoven einen Diebeszug planten, brauchten sie einen „Baldower“, der die Sache für sie ausbaldowerte. Das war der Auskundschafter, eine Zusammensetzung aus „baal“ (= Herr) und „dowor“ (= Sache), also der „Herr der Sache“, der Anführer des Unternehmens.

Und um nicht auf frischer Tat ertappt zu werden, brauchten sie noch jemanden, der Schmiere stand. Diese Schmiere hat nichts mit Öl oder Fett zu tun. „Schmiere“ kommt vom hebräischen Wort „shmíra“, das schlicht und einfach „Wache“ bedeutet. Schmiere stehen heißt also nichts anderes als Wache halten, aufpassen.

Wenn die Sache gut lief, erwartete die Ganoven jede Menge Kies, das jiddische Wort für „Beute“. Und wo Kies liegt, ist auch Moos nicht weit. Ohne Moos nichts los, reimen wir gern, und jeder weiß, dass mit Moos Geld gemeint ist. Nur wenige wissen, dass ein Moo im Jiddischen ein Pfennig war und viele Moos folglich viel Geld. Doch wenn sie keinen Massel hatten und die Sache schiefging, erwartete die Ganoven der Knast. Das kommt vom jiddischen Wort knas und war ursprünglich eine Geldbuße, eine gerichtliche Strafe. Als Ganove brauchte man Chuzpe und Massel, um nicht im Knast zu landen.“

„Und wenn man keinen Massel hatte, dann hatte man’s vermasselt!“, rief Felix begeistert aus. „Du bist ein ausgekochter Bursche“, erwiderte ich anerkennend. „Und das bedeutet nicht, dass man dich zu heiß gebadet hätte, sondern dass du spitzfindig bist. Das Wort auskochenem ist Jiddisch und bedeutet ,sich vergewissern, vorbereiten, planen‘. Wer ausgekocht ist, der ist gut vorbereitet.“

Im Leben geht es selten gerecht zu. Der eine ist ein Nebbich (das heißt ein Niemand), lebt mit seiner Mischpoke (jiddisch für „Familie“, „Sippschaft“) in irgendeinem Kaff (vom jiddischen kefar für Dorf) und muss für sein Auskommen hart malochen. Beim Wort „Maloche“ denkt mancher unwillkürlich ans Ruhrgebiet und an körperliche Schwerstarbeit in den Zechen und Stahlwerken. Tatsächlich ist das Wort im Ruhrdeutschen sehr geläufig – ebenso im Berlinischen. Doch es stammt wiederum aus dem Jiddischen und geht zurück auf  das hebräische Wort „mĕlākā“ für Arbeit.

Der andere ist ein Schmock (jiddisch für Blödmann, Idiot) und macht womöglich einen unverschämten Reibach. Das es weder ein Flüsschen noch ein Familienname ist, sondern die eingedeutschte Form des jiddischen Wortes rewach, das für „Nutzen, „Vorteil“ und „Gewinn“ steht.

Wer viel Reibach macht, ist bald ein Großkotz. Das klingt derber, als es ist. Das jiddische Wort großkozen war ursprünglich die Bezeichnung für einen schwerreichen Mann, erst später wurde daraus der Angeber, Prahler und Wichtigtuer.

Betucht zu sein, ist angenehm. Das hat aber nicht mit gutem Tuch und teuren Stoffen zu tun. Das jiddische Wort betuch bedeutet „sicher“, „wohlhabend“. Wer betuch war, galt als zuverlässig und genoss ein hohes Ansehen. Wenn heute ein Geschäftsmann Bankrott macht, kann er ganz gelassen Insolvenz anmelden und bald darauf unter dem Namen seiner Ehefrau ein neues Geschäft eröffnen. Früher hatte ein Bankrott wesentlich unangenehmere Folgen, weshalb es nicht selten vorkam, dass jemand, der seine Schulden nicht zurückzahlen konnte, Reißaus nahm. Das Wort „Pleite“ kommt vom jiddischen pleto und bedeutete ursprünglich „Flucht“. Ein Pleitegeher war jemand, der die Flucht vor seinen Gläubigern ergriff und das Weite suchte. Bei der Übernahme ins Deutsche wurde daraus ein symbolträchtiger Vogel: der Pleitegeier.

Jedes Wort in unserer Sprache hat eine Geschichte. Die jiddischen Wörter haben nicht nur Geschichte, sie erzählen Geschichten. Sie sind kleine leuchtende Blüten auf der weiten grünen Wiese unserer Sprache. Da passt es, dass auch eine Blume ihren Namen aus dem Jiddischen hat: Die Levkojen, in Südeuropa und Asien heimische Zierpflanzen, gehen auf die jiddischen Worte lew (= Herz) und goje (= Nichtjüdin)  zurück und bedeuten übersetzt „Herz einer Christin“.

„Wenn du nach diesem Vortrag geschlaucht wärst, könnte ich’s verstehen“, sagte ich zu Felix. „Das kommt übrigens vom jiddischen Wort schlacha, das ,zu Boden werfen‛ heißt. Nun sind wir aber auch am Zoff angelangt. Zoff bedeutete ursprünglich nichts anderes als Ende. Da man es aber allzu oft erlebte, dass der Zoff mies ausging, eine Sache also ein schlechtes Ende nahm, erlangte Zoff die Bedeutung Ärger, Zank und Streit.“

Als Felix sich auf sein Fahrrad schwang, um nach Hause zu fahren, stand der weiße BMW immer noch vor meiner Einfahrt. Das gab dem Jungen Gelegenheit, seine frisch erworbenen Jiddisch-Kenntnisse anzubringen. „Dieser Schmock hat vielleicht Chuzpe!“, rief er entrüstet aus. „Das nächste Mal bring ich meine Mischpoke mit, und dann kriegt er gehörig Zoff!“


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8 Kommentare

  1. Schöne Geschichte, gut recherchiert! Und wer hätte gedacht, dass zwischen „Griechen“ und „Gaunern“ ein historischer Zusammenhang besteht? Das macht die aktuelle Euro-Krise doch um vieles verständlicher 😉

  2. Interessanter Beitrag, man (frau) lernt nie aus. Ich habe immer gedacht, „betucht“ kommt von „gutes Tuch tragen“, „teure und gute Kleidung tragen“, also gut betucht zu sein = sich gute Kleidung leisten zu können = reich zu sein. Bin gerne eines Besseren belehrt worden.

    • Danke ebenfalls für freundliche Belehrung. Bei „betucht“ hatte ich stets Stoffhändler vor Augen … Viel teures Tuch = viel Ware = guter Gewinn.

      Aber … wer weiß, wie dieses Wort es ins Jiddische schaffte? Vielleicht ebenso?

      Herr Sick, machen Sie uns noch klüger?

    • Betucht hat nichts mit Tüchern zu tun. Das jiddische Wort „betuch“ kommt aus dem Hebräischen und heißt „sicher“. Wer „betuch“ war, galt als sicher, als verlässlich, als vertrauenswürdig, da er genug Geld hatte und einen daher nicht bestehlen würde.
      Die Interpretation „betucht = edles Tuch, feiner Zwirn“ ist eine volksetymologische Umdeutung, wie sie bei vielen Wörtern erfolgte, auf deren Herkunft man sich keinen Reim machen konnte. Siehe auch -> einseifen, verkohlen, Maulwurf, Windhund, Rosenmontag etc.

  3. Herzlichen Dank für den lehrreichen, amüsanten und farbigen Beitrag! Mein Tag ist gerettet.

  4. Danke für diesen aufschlussreichen und gleichzeitig unterhaltsamen Bericht. Im Arabischen gibt es auch das Wort Kafar für kleine Ortschaft. In Syrien, Irak und Palästina ist Kafar oft der Anfangsteil eines Ortschaftsnamens.
    Aber das ist sicherlich nicht verwunderlich, da Arabisch und Hebräisch sehr nah verwandte semitische Sprachen sind.
    Ich empfinde es ebenfalls als Bereicherung unserer Sprache, dass wir so viele, noch gebräuchliche jiddische Wörter in ihr haben.
    Das ist gelebte Geschichte.

  5. Riedel, Eckhard

    Ihr Streifzug durch das Jiddische war längst überfällig und sehr informativ. Vielen Dank!
    Der „Pleitegeier“ war allerdings in unserer Gegend synonym zu dem „Kuckuck“ an gepfändeten Gegenständen und zu DDR-Zeiten die abwertende Bezeichnung zum Hoheitszeichen des ehemaligen Deuschen Reiches, das ja 2 Weltkriege verloren hatte. Auch im Anspann des „Schwarzen Kanals“ flog ein Spottbild des Bundesadlers auf eine Antenne. Das Wort Geier wurde gegenüber dem Adler als minder edel gesehen (Aasfresser).
    Ihnen eine gesegnete Osterzeit!

  6. Jetzt wollte ich mir doch mal via Internet anschauen, wie Levkojen denn so aussehen – und da steht doch nun glatt (Zitat Wikipedia): Der Name Levkojen kommt vom griechischen leukoion für Weißveilchen.

    Was nu‘, wo kommt das Wort denn nun her?

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