Mittwoch, 27. März 2024

Weil er mich sitzen hat lassen

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Dass Ihnen das Perfekt Probleme macht, habe ich natürlich kommen gesehen. Schließlich hab ich’s mir denken gekonnt. Aber Sie haben es ja unbedingt perfektionieren gemusst. Bleibt die Frage: Hätten Sie das nicht lieber geblieben gelassen gesollt?

Wie viele andere Kinder auch war Felix am Ende des letzten Harry-Potter-Bandes sehr traurig, dass die Abenteuer des berühmten Zauberschülers nun vorbei waren. Ich versuchte ihn zu trösten: „Soweit ich weiß, arbeitet die Autorin bereits an etwas Neuem!“ – „Echt?“, rief Felix, und seine Augen leuchteten vor Begeisterung, „woher weißt du das?“ – „Ach“, erwiderte ich achselzuckend, „das habe ich vom Hörensagen.“ – „Was ist das, vom Hörensagen?“, fragte Felix. „Das ist so eine Redensart“, erklärte ich. „Es heißt vom Hörensagen, weil man es irgendjemanden irgendwann einmal hat hören sagen.“

Diese Aussage verlangte allerdings nach einer Korrektur, und so setzte ich nach: „Ich meine natürlich sagen hören.“ Felix dachte nach. „Hörensagen kommt vom Sagenhören? Sagen sind doch aber ausgedachte Geschichten, so wie Märchen. Dann ist das, was man vom Hörensagen kennt, also gar nicht wahr, sondern nur ausgedacht!“ – „Nein“, widersprach ich, „Hörensagen bedeutet, dass man gehört hat, wie jemand etwas gesagt hat. Es ist eine Information, die man irgendwo aufgeschnappt hat. Es kann sich dabei um ein Gerücht handeln, es kann aber durchaus die Wahrheit sein.“ Ich musste einsehen, dass meine Erklärung keinesfalls perfekt war, aber irgendwie ist das mit dem Perfekt auch gar nicht so einfach.

Normalerweise wird das Perfekt immer mit einer Form von haben oder sein plus dem Perfektpartizip gebildet: Ich höre dich wird im Perfekt zu Ich habe dich gehört; Du weißt es wird zu Du hast es gewusst; Er will es nicht wird zu Er hat es nicht gewollt; und Wir lassen es wird zu Wir haben es gelassen.

Hängt vom Verb aber eine Infinitivkonstruktion ab, wenn es also nicht bloß Ich höre dich heißt, sondern Ich höre dich atmen, dann tritt im Perfekt anstelle des Partizips (gehört) eine zweite Grundform auf, ein sogenannter Ersatzinfinitiv: Ich habe dich atmen hören.

Man kann sich leicht ausmalen, wie es einst dazu gekommen ist: Wenn man hinter einem Verb, das im Infinitiv steht, noch ein zweites Verb sprechen soll, so ist die Zunge schnell versucht, dem zweiten die gleiche Endung wie dem ersten zu verpassen. Ein doppelter Infinitiv wie in „kommen sehen“, „sagen hören“ und „wissen wollen“ spricht sich leichter als die holprigeren Wendungen „kommen gesehen“, „sagen gehört“ und „wissen gewollt“. Und weil einem das Perfekt auf diese Art nicht nur leichter über die Lippen geht, sondern sich auch eleganter anhört, wurde die Not irgendwann zur Tugend und die Regelverletzung zur Regel erklärt. Und diese tritt bei den folgenden Verben in Kraft: müssenkönnendürfenlassenwollensollenmögen, brauchensehen und hören.

Das Auftreten eines doppelten Infinitivs ist also zulässig; und mehr noch: Der Ersatzinfinitiv ist dem Perfektpartizip sogar vorzuziehen. Auch wenn manche ihn für falsch halten. Der eine oder andere meiner Leser meldete bereits seine Zweifel an: „Kann man wirklich sagen: ,Ich habe ihn über die Straße gehen sehen‘? Für mich hört sich das falsch an! Meiner Meinung nach muss es ,gesehen‘ heißen!“

Dass der doppelte Infinitiv keineswegs falsch ist, wird besonders im Zusammenhang mit könnendürfen und müssen deutlich. Denn würden dieselben Leser sich auch für „Ich hätte stutzig werden gemusst“ stark machen? Spätestens da hätte doch jeder stutzig werden müssen!

Bei Verben der Wahrnehmung wie „sehen“ und „hören“ sind indes beide Formen möglich, was wohl auch der Grund für die gelegentliche Verunsicherung ist. Und auch bei „lassen“ bleiben wir ganz gelassen und lassen uns beide Paar Schuhe passen. Den Beispielsatz „Die Partei hat den Kandidaten fallen lassen“ gibt es auch in der Variante „Die Partei hat den Kandidaten fallen gelassen“. Beides gilt als korrekt. Verkehrt wäre hier lediglich Zusammenschreibung; denn die Schreibweisen fallenlassen oder fallengelassen wurden von der Rechtschreibkommission und vom Duden fallen gelassen.

Gelegentlich kommt es vor, dass nicht nur zwei, sondern sogar drei Verben aufeinander folgen. Dann stehen alle drei im Infinitiv: Ich hatte meine Chancen schon flöten gehen sehen. Du hättest dich nicht so gehen lassen dürfen. Wir haben uns den Weg zeigen lassen müssen.

Anders wiederum verhält es sich im Passiv. Da ist der Ersatzinfinitiv fehl am Platz. Wenn die Partei den Kandidaten aktiv hat fallen lassen (oder wahlweise fallen gelassen hat), dann wurde er passiv von der Partei fallen gelassen – und nicht etwa fallen lassen. Ob der Kandidat sich das hat gefallen lassen, steht auf einem anderen Blatt.

Kürzlich landete ich beim Herumdrücken auf meiner Fernbedienung in dem Fernsehfilm „Männer sind zum Abgewöhnen“. Ich fing gerade an, mich in die Geschichte einzufühlen, da hörte ich die weibliche Hauptfigur, eine alleinerziehende Mutter, zu ihrer Tochter sagen: „Dein Vater hat ein schlechtes Gewissen, weil er mich damals hochschwanger sitzen hat lassen.“ Das ließ mich aufhorchen. Dass Nebensätze, die mit „weil“eingeleitet werden, uns zunehmend Schwierigkeiten bereiten, war mir ja nichts Neues, weil das Problem ist hinlänglich bekannt. Hier geht es aber nicht um die übliche Satzverdrehung, sondern um die Stellung des „hat“: „weil er mich sitzen gelassen hat“ oder „weil er mich hat sitzen lassen“ – beide Formen sind möglich und geläufig. „Weil er mich sitzen hat lassen“ wirkt hingegen sonderbar. Mein erster Gedanke war, dass der Drehbuchautor beim Schreiben vielleicht einen sitzen hatte. Dann fiel mir ein Satz ein, den ich im Niederländisch-Unterricht gelernt hatte. Ich habe ihn mir damals eingeprägt, weil ich ihn besonders drollig fand. Er lautete: „Ik heb de zon in de zee zien zakken.“ Wortwörtlich übersetzt heißt das: „Ich habe die Sonne ins Meer sehen sinken.“ Zwei Dinge habe ich damals begriffen:

1. Die Niederländer machen es genauso wie wir, auch sie lassen im Perfekt zwei Infinitivformen aufeinander folgen.

2. Sie tun es aber in umgekehrter Reihenfolge. Denn „ins Meer sehen sinken“ klingt für deutsche Ohren ungewohnt. Hierzulande würden man sagen: „Ich habe die Sonne ins Meer sinken sehen.“

Einen weiteren bemerkenswerten Fall entdeckte ich unlängst in einem Bericht über Kurt Cobain und Courtney Love: „Sie soll ihn aus Habgier haben umbringen lassen“, hieß es darin – eine nicht zuletzt in syntaktischer Hinsicht überaus gewagte Formulierung. Im ersten Moment erschien sie mir falsch. Doch ich konnte nicht sagen, wie es anders hätte lauten müssen: Sie soll ihn umbringen haben lassen? Sie soll ihn umbringen lassen haben? Oder gar: Sie soll ihn umgebracht haben lassen? Nein, das würde ja bedeuten, sie ließ ihn so umgebracht, wie sie ihn bereits vorfand. Je länger ich über dieses „haben umbringen lassen“ nachdachte, desto mehr begann ich an meiner Intuition zu zweifeln. Verdammte Courtney, nun hatte sie auch noch mein Sprachgefühl auf dem Gewissen! Nach eingehender Recherche stellte sich die kühne Behauptung als richtig heraus – nicht in Bezug auf Kurt Cobains Tod, sondern in Bezug auf die Reihenfolge der Infinitive. Denn die Regel schreibt vor, dass das Hilfsverb „haben“ vorangestellt wird, wenn es sich bei der zweiten Infinitivform (hier: lassen) um einen von „haben“ abhängigen Ersatzinfinitiv handelt.

Dies werden Sie jetzt erst einmal sacken lassen müssen. Dass die Sache mit dem doppelten Infinitiv keine leichte Kost ist, hätte ich Ihnen natürlich gleich sagen können. Aber dann hätten Sie diese Kolumne womöglich gar nicht lesen mögen. Darum habe ich die alte Spinat-Taktik angewandt. Die kennen Sie bestimmt auch noch: Alle wollten, dass man’s schluckt, und keiner sagte einem vorher, dass es nicht schmeckt. Und dann diese wissenschaftlich nicht zu beweisende Behauptung, von Spinat würde man groß und stark! Auch Felix hat längst seine Zweifel daran, wie ich unlängst feststellen konnte. Ich wollte ihn zu einer Pizza mit Käse und Spinat überreden und führte, weil mir nichts Besseres einfiel, das alte „Spinat macht stark“-Argument an. „Wie stark denn?“, fragte Felix kritisch. „Na, so stark wie Herkules!”, erwiderte ich. „Echt? Und woher weißt du das?“ Ich zwinkerte ihm zu und antwortete: „Das weiß ich vom Sagenhören!“

(c) Bastian Sick 2009


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.

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