Donnerstag, 18. April 2024

Ziehen Sie die Brille aus!

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Man kann Klamotten anziehen und Schuhe. Man kann auch Pech anziehen oder Glück. Und dann gibt es da noch dieses sonderbare Phänomen, dass Menschen Brillen, Uhren und sogar Taschen anziehen. Und das alles ohne Magnetismus!

Es war mal wieder typisch hamburgisches Wetter: Strahlend blauer Himmel und gleißender Sonnenschein. An solchen Tagen wimmelt es am Hafen nur so von Touristen: Franzosen und Spanier, Schweizer und Dänen, Schwaben und Franken, sogar Bayern und US-Amerikaner. Man hört die unterschiedlichsten Sprachen und Dialekte. Vor den Landungsbrücken sprach mich eine junge Frau an und fragte, ob ich wohl ein Foto von ihr und ihrem Freund machen könne. „Selbstverständlich“, erwiderte ich, „es wird mir ein Vergnügen sein!“ Sie reichte mir die Kamera und stellte sich zu ihrem Freund. Das erste Foto schien mir schon recht gelungen, aber ich wusste, dass es noch besser geht: „Könnten Sie vielleicht die Sonnenbrillen abnehmen?“ – „Kein Problem!“ Die Frau setzte die Brille ab, und da ihr Freund es ihr nicht sofort gleichtat, stieß sie ihn an und rief: „Los, zieh die Sonnenbrille aus!“

Ich stutzte: Hatte ich richtig gehört? „Haben Sie gerade gesagt, er soll die Brille ausziehen?“, fragte ich sicherheitshalber nach. „Ja!“, erwiderte sie achselzuckend, „das hatten Sie doch vorgeschlagen?“ Da gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder handelte es sich bei der Brille ihres Freundes um eine Detektiv-Sonnenbrille mit Teleskop-Bügeln, die man auf eine Länge von bis zu einem Meter ausziehen kann – oder die beiden kamen von einem fremden Planeten und sprachen eine seltsame Sprache. „Ich bin mir sicher, dass ich mich anders ausgedrückt habe. Ich würde nie von jemandem verlangen, eine Brille auszuziehen!“, stellte ich klar. Da erwiderte sie lachend: „Machen Sie sich nichts draus, wir sind ausm Rheinland!“ Das erklärte natürlich alles.

Anderntags begann ich, der Sache auf den Grund zu gehen und ein paar Recherchen zum Thema An- und Ausziehen anzustellen. „Dabei helfe ich gern!“, bot mein Freund Henry begeistert an und erklärte auch gleich, wie er sich das vorstellte: „Du nimmst dir den neuesten Barbie-Katalog vor und ich mir den ,Playboy‘ …“

Ich nahm mir stattdessen lieber den Duden-Band 9 über „Richtiges und gutes Deutsch“ vor, fand darin aber weder zu „Anziehen“ noch zu „Ausziehen“ einen Eintrag. Offenbar bereitet das An- und Ausziehen in sprachlicher Hinsicht wenig Probleme. Bemerkenswert ist zunächst, dass man sowohl Bekleidungsstücke als auch sich selbst anziehen kann. Indem man sich eine Hose und ein Hemd anzieht, zieht man sich selbst an. Und genauso kann man sich selbst gleichzeitig mitsamt seiner Kleidung auch wieder ausziehen. So wie in dem Lied von Hildegard Knef, das vom Leben einer Stripperin erzählt: „Ich zieh mich an – und langsam aus“. Hildegard Knef trug übrigens gern große, auffällige Sonnenbrillen. Das ist bekannt. Weniger bekannt ist, ob die Knef die Brillen an- und langsam wieder auszog. Möglich, dass sie bestimmte Brillen geradezu magisch anzog wie ein Magnet, aber als Berlinerin wird sie diese schön brav „uff“ ihre „Nese“ „jesetzt“ haben und nicht etwa „uff“ dieselbe „jezogen“.

Der hochdeutsche Sprachstandard lässt das An- und Ausziehen nur in Hinsicht auf Kleidung zu. Einschließlich der Schuhe, was sogar zum geflügelten Wort wurde: „Diesen Schuh ziehe ich mir nicht an!“ So einen Satz wird man freilich niemals in einem Film zu hören bekommen, in dem Sarah Jessica Parker die Hauptrolle spielt. Die zieht sich bekanntlich jeden Schuh an, solange er nur teuer genug ist. Unsereiner zieht Hosen, Hemden und T-Shirts an, gelegentlich auch mal einen Anzug; weshalb selbiger so genannt wird.

Doch schon beim Schal wird es kompliziert. In der Aufzählung fällt der Schal vielleicht nicht weiter auf: „Er zog sich Mantel, Schal und Handschuhe an.“ Doch wenn es um den Schal allein geht, ist es eher üblich, von „umlegen“ und „abnehmen“ als von „anziehen“ und „ausziehen“ zu sprechen.

Bei den sogenannten Accessoires ist mit der Anzieherei im Standarddeutsch nämlich Schluss. Accessoires, auf Deutsch auch „Zubehör“ genannt (zumindest in der Generation Playmobil), sind schmückende, zum Teil nützliche, zum Teil gänzlich unpraktische, dafür aber umso teurere Gegenstände wie Gürtel, Tücher, Krawatten, Mützen und Taschen. Diese werden standardsprachlich nicht an- und ausgezogen, sondern – je nach Accessoire – umgeschnallt, umgelegt, angesteckt, umgehängt, umgebunden oder aufgesetzt.

Doch was wäre die standardsprachliche Regel ohne die regionalsprachliche Ausnahme? In einigen Landstrichen der Republik, vor allem im Westen, zieht man nicht nur Kleidung an, sondern auch Brillen, Mützen und Krawatten.

Die Saarländer zum Beispiel ziehen Mützen an und Brillen aus, und es hat keinen Sinn, ihnen zu erklären, dass es im Falle der Brille „abnehmen“ heißen müsse, weil die Saarländer das Wort „nehmen“ nicht kennen.

Beim An- und Ausziehen macht die Regionalsprache auch vor Uhren und Schmuck nicht halt. Standardsprachlich werden Armbanduhren „um- und abgebunden“, norddeutsch auch gern „um- oder abgemacht“ („Vergiss nicht, vor dem Baden die Uhr abzumachen!“) – in anderen Gegenden aber auch „angezogen“. Ebenso kann man gelegentlich hören, wie jemand darüber klagt, dass er seinen Ehering nicht mehr ausziehen könne. Und was ist mit dem Kopftuch? Kann man das ebenfalls an- und ausziehen? Diese Frage habe ich in der sogenannten Kopftuchdebatte bislang vermisst!

In einem Internetforum stellte jemand die Frage, ob man unter einer Taucherbrille „auch eine Brille anziehen“ könne. Er bekam darauf zahlreiche Ratschläge. Einer lautete: „Es gibt Taucherbrillen mit Sehstärke. Eine normale Brille kannst du aber nicht drunter anziehen. Am einfachsten sind Kontaktlinsen!“ Ich hätte gern gewusst, ob man die Kontaktlinsen ebenfalls „anziehen“ kann. Meine Assistentin, die aus Mönchengladbach stammt, bestätigte mir: „Selbstverständlich kann man Kontaktlinsen anziehen!“ Als sie als Studentin nach Hamburg kam, musste sie erst einmal lernen, dass man Brillen aufsetzt und abnimmt, dass man Ringe ansteckt und abzieht, Uhren um- und abbindet, Schmuck an- und ablegt. In ihrer Heimat brauchte man für all dies komplizierte An- und Abgetüdel nur zwei Wörter: anziehen und ausziehen. Sie findet auch heute noch, dass das doch viel praktischer sei. Statt sich einen Gürtel umzuschnallen, eine Brille aufzusetzen und einen Schal umzubinden, würde sie einfach Gürtel, Brille und Schal anziehen, das gehe doch viel schneller. Wo sie recht hat, hat sie recht.

Ich werde sie demnächst auf einen Tauchlehrgang schicken. Dann kann sie mir berichten, wie es ist, mit angezogenen Kontaktlinsen eine Taucherbrille anzuziehen.

Wie sagen Sie’s? Wo ist das An- und Ausziehen überall zuhause? Schreiben Sie dem Zwiebelfisch!

 


 

Kompliziertes Hochdeutsch Unkomplizierte Regionalsprache

(Niederrhein, Rheinland, Saarland u. a.)

Armbanduhr umbinden, anlegen/Armbanduhr abbinden, ablegen Armbanduhr anziehen/Armbanduhr ausziehen
Brille aufsetzen/Brille absetzen, auch: abnehmen Brille anziehen/Brille ausziehen
Gürtel umschnallen, umbinden, umlegen/Gürtel abschnallen, ablegen, abnehmen Gürtel anziehen/Gürtel ausziehen
Hut aufsetzen/Hut abnehmen Hut anziehen/Hut ausziehen
Kopftuch umbinden/Kopftuch abnehmen Kopftuch anziehen/Kopftuch ausziehen
Krawatte umlegen, umbinden/Krawatte ablegen, abbinden, abnehmen Krawatte anziehen/Krawatte ausziehen
Maske aufsetzen, überziehen/Maske absetzen, abnehmen, abstreifen Maske anziehen/Maske ausziehen
Mütze aufsetzen/Mütze absetzen, abnehmen Mütze anziehen/Mütze ausziehen
Ohrringe anlegen, anstecken/Ohrringe ablegen, abnehmen Ohrringe anziehen/Ohrringe ausziehen
Ring an (den Finger) stecken, auf den Finger schieben, Ring auf oder über den Finger ziehen, streifen/Ring abnehmen, abziehen, abstreifen Ring anziehen/Ring ausziehen
Schal umlegen, umbinden, umwickeln/Schal ablegen, abnehmen Schal anziehen/Schal ausziehen
Schmuck umlegen, anlegen/Schmuck ablegen, abnehmen Schmuck anziehen/Schmuck ausziehen
Tasche umhängen/Tasche ablegen, abnehmen (je nach Art der Tasche sind verschiedene Verben möglich: die Umhängetasche wird umgehängt oder übergeworfen, die Handtasche übers Handgelenk oder den Arm gehängt, die Bauchtasche um den Bauch gebunden oder geschnallt) Tasche anziehen/Tasche ausziehen (die Art der Tasche spielt keine Rolle)

 

(c) Bastian Sick 2010

 


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 5“ erschienen.

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4 Kommentare

  1. Heike Bielow-Rehfeldt

    Als ich in Südhessen lebte, wunderte ich mich auch immer über das An- und Ausziehen von Hüten, Brillen und Uhren. Es gab aber noch andere Phänomene: Dort isst man eine Wurst nicht auf, sondern leer.

  2. Ich finde das Wort „Anziehsachen“ immer etwas unschön. Hört sich für mich eher nach Kindersprache an. Ich bevorzuge da „Kleidung“ oder „Klamotten“. Außerdem müsste es dann ja auch „Ausziehsachen“ geben.

  3. Daß Saarländer das Wort „nehmen“ nicht kennen, ist nicht ganz richtig. Der Mond ist bei uns nicht „abholend“ und Bonbons, bei denen man gleich mehrere verspeisen soll, haben bei uns auch keinen gesonderten Aufdruck auf der Tüte.

  4. Heute morgen zog ich meine Kleidung an, dann meine Schuhe. Dann zog ich meine Brille an und meinen Fahrradhelm.
    Ich zog meine Wohnung aus und danach das Haus. Gerade wollte ich mein Rad anziehen, aber es regnete, also beschloss ich, lieber den Bus anzuziehen. Als der Bus am Büro war, zog ich ihn aus. Ich zog das Bürogebäude an und den Fahrstuhl, um diesen gleich wieder auszuziehen. Ich zog nacheinander mein Büro, meinen Schreibtischstuhl und meinen PC an.
    Und dann wurde mir so schlecht, dass ich leider mein Frühstück wieder ausziehen musste …

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