Freitag, 13. Dezember 2024

Das Wunder des Genderns

Kein sprachliches Thema hat die Gemüter in den letzten Jahren so sehr bewegt und erhitzt wie das Gendern, die geschlechtergerechte Sprache. Vieles ist darüber gesagt und geschrieben worden, zahlreiche Bücher sind dazu erschienen. Da ich in einer Umgebung aufgewachsen bin, in der Frauen den Ton angaben oder zumindest mitbestimmten, war es für mich immer selbstverständlich, dass Gruppenbezeichnungen wie »Bürger«, »Wähler«, »Schüler«, »Studenten«, »Kunden« und »Zuschauer« auch Frauen umfassten. 

Aber ich ließ mich belehren, dass es aus Achtung vor dem weiblichen Geschlecht geboten sei, die Bürgerinnen, Wählerinnen, Schülerinnen, Studentinnen, Kundinnen und Zuschauerinnen gesondert zu erwähnen, und so schrieb ich meine Büchern stets für »Leserinnen und Leser«. Freilich aber habe ich mich über die Auswüchse, die die Genderisierung hier und dort annahm, lustig gemacht, denn so manche Wortbildung mit »innen« erschien mir eher fragwürdig. Und damit meine ich nicht etwa das »Hähncheninnenfilet« aus dem Supermarkt, sondern seltsam anmutende Formen wie »Witwerin« oder »Vorständin«. Wenn in einer Einladung von »Mitgliederinnen und Mitgliedern« die Rede war, argumentierte ich, dass das Mitglied ein sächliches Wort sei, von dem sich eine weibliche Form nicht sinnvoll bilden lasse. Selbst ohne Glied bleibe das »Mitglied« sächlich.

Die Behauptung, die Endung -er würde immer auf eine Person männlichen Geschlechts hinweisen, fand ich in den Wörtern »Mutter« und »Schwester« ausreichend widerlegt – ebenso in dinglichen Begriffen wie Salzstreuer, Gabelstapler oder Scheinwerfer. Dass es sich beim »Büstenhalter« um eine männliche Berufsbezeichnung handeln könnte, würde vielen Herren zwar passen, gehört jedoch ins Reich der Fantasie. Die Endung zeigt hier das grammatische Geschlecht (Genus) an, nicht aber das natürliche (Sexus). Genus und Sexus sind in dieser Debatte oft zu Unrecht in denselben Topf geworfen worden. Daher war ich auch befremdet, als die Duden-Redaktion das Wort »Mieter« in ihrem Online-Katalog plötzlich als »männliche Person, die etwas mietet« definierte. Das erschien mir diskriminierend, denn nach dieser Definition können Frauen keine Mieter mehr sein.  

Als meine frühere Universität Hamburg vor rund 20 Jahren beschloss, die »Studentinnen und Studenten« kurzerhand durch »Studierende« zu ersetzen, merkte ich an, dass die Partizipialform grammatisch etwas anderes besagt als das Hauptwort. Ein Schlafender sei  nicht dasselbe wie ein Schläfer und ein Trinkender müsse nicht unbedingt gleich ein Trinker sein. Folglich seien Studierende nicht dasselbe wie Studenten. Doch die Uni hielt sich lieber an die Devise »Probieren geht über Studieren« und so heißt das Studentenwerk heute ganz offiziell »Studierendenwerk«. 

Der Siegeszug der geschlechtergerechten Sprache war ohnehin nicht mehr aufzuhalten, und in fast allen öffentlichen Bereichen wurde das Gendern zur Pflicht. Wenn Sprache aus ideologischen Gründen per Verordnung geändert wird, werde ich zwar immer misstrauisch, denn das ist eigentlich ein Merkmal von Diktaturen. Aber inzwischen habe ich meinen Frieden damit gemacht. 

Und wenn ich in immer neuen, teilweise überraschenden Zusammenhängen weibliche Formen auftauchen sehe – wenn beispielsweise eine Kirchengemeinde ein Sommerfest für »Kinderinnen und Kinder jeden Alters« veranstaltet oder in einer Anzeige eine »Aushilferin« gesucht wird –, freue ich mich über die Möglichkeiten, die unsere Sprache bietet. Meine Favoritinnen unter den »innen«-Wörtern sind natürlich die Innenarchitektinnen und die Innenministerinnen. 

Dass eine Sprache die Genderisierung überhaupt leisten kann, ist keinesfalls selbstverständlich. Der große Erfolg der »innen«-Formen sollte uns nicht den Blick nach außen verstellen. Beim Versuch, das schöne, kompakte Wort »Ärztin« in andere Sprache zu übersetzen, landet man in den meisten Fällen beim »doctor«. 

Im Niederländischen – das dem Deutschen ja bekanntlich noch am Ähnlichsten ist –  gibt es nur bei wenigen Personenbezeichnungen die Möglichkeit, eine weibliche Form zu bilden. Der »verkoper« (Verkäufer) kann zur »verkoopster« (Verkäuferin) werden und der »leraar« (Lehrer) zur »lerares« (Lehrerin), aber dann ist schon auch bald Schluss. Angela Merkel war im Niederländischen genauso »de bondskanselier« wie vor ihr Gerhard Schröder und nach ihr Olaf Scholz. Eine weibliche Form des Wortes »Bundeskanzler« kann im Niederländischen nicht gebildet werden.

Im Englischen ebenso wenig, dort existieren fast gar keine weiblichen Berufsbezeichnungen. (Von traditionellen Frauenberufen wie Nurse, Nanny, Stewardess und Queen einmal abgesehen.) Umso drolliger erscheint es, dass das Wort gendern (gesprochen »dschändern«) ausgerechnet ein englisches ist. Die britische Premierministerin kann noch so sehr Frau sein, sie bleibt im Englischen doch »prime minister«. Wer Liz Truss als »prime ministress« titulieren wollte, würde in Großbritannien nur Kopfschütteln und Unverständnis ernten. 

Im Französischen wurde zu Ehren Angela Merkels aus »le chancelier« (der Kanzler) immerhin die (bis dahin unübliche) Form »la chancelière« gebildet, doch »le ministre« (der Minister) oder »le professeur« (der Lehrer) bleiben im Französischen auch bei der Ministerin oder der Lehrerin unverändert, allenfalls mit einem »Madame« davor: Madame le ministre, Madame le professeur. 

Das Deutsche kann zu jeder männlichen Form eine weibliche bilden. Schon zu früheren Zeiten wurde aus dem Herrn die Herrin gemacht und aus dem Landsmann die Landsmännin, was vielleicht nicht besonders elegant, aber immerhin möglich war.

Die Sprache sei das Spiegelbild der Gesellschaft, heißt es. Insofern müsste Deutschland inzwischen – allein aufgrund der vielen weiblichen Formen – die Gesellschaft mit der größten Gleichberechtigung der Welt sein. Vielleicht ist dies auch so. Das wäre ein Grund, sich zu freuen. Zu verdanken haben wir das nicht nur der Emanzipation der Frau, sondern eben auch unserer Grammatik. Keine andere mir bekannte Sprache kann ein derart konsequentes Gendern leisten, daher sehe ich im gleichberechtigten Nebeneinander von diversen männlichen und weiblichen Formen heute vor allem eines: eine Verneigung vor den wunderbaren Möglichkeiten der deutschen Sprache. 

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