Donnerstag, 18. April 2024

Ein zu befahrenes oder zu befahrendes Land?

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Untergang Karthagos, Gemälde von William Turner: Eine zu zerstörende

Frage eines Lesers aus Mailand: Lieber Zwiebelfisch, als Korrekturleser für einen wissenschaftlichen Aufsatz stand ich neulich vor folgendem Problem: In einem Abschnitt über Länder, die zukünftige Reisende befahren werden, war von „Eigenschaften der zu befahrenden Länder“ die Rede. Vom Gefühl her habe ich korrigiert in „Eigenschaften der zu befahrenen Länder“. Daraufhin wurde ich gebeten, zu erklären, warum die eine Variante richtig ist und die andere nicht. Nach verschiedenen Versuchen hisse ich nunmehr die weiße Flagge und wende mich an Sie: Habe ich den Satz verschlimmbessert? Was ist richtig – und mit welcher Begründung?

Antwort des Zwiebelfischs: Hier haben wir es mit einem erlesenen grammatischen Phänomen zu tun, das den Namen Gerundivum trägt, oder auch kurz: Gerundiv. Es handelt sich um ein Partizip I mit passivischer Bedeutung, das eine dringende Empfehlung oder Notwendigkeit ausdrückt oder – in der Verneinung – ein Verbot oder eine Unmöglichkeit:

Empfehlung/Notwendigkeit:

– ein zu lesendes Buch (= muss/sollte gelesen werden)
– ein zu bereisendes Land (= muss/sollte bereist werden)

Verbot/Unmöglichkeit:

– ein nicht zu öffnendes Fenster (= kann oder darf nicht geöffnet werden)
– ein keinesfalls oral einzunehmendes Medikament (= darf unter keinen Umständen geschluckt werden)

Das Gerundiv gab es natürlich auch schon im klassischen Latein. Eines der berühmtesten lateinischen Beispiele stammt von Cato dem Älteren, der jede Rede mit den Worten beschloss: „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam“, was übersetzt bedeutet: „Im Übrigen meine ich, Karthago muss zerstört werden!“ Dieses „delendam“ (= muss zerstört werden) ist ein Gerundiv, denn die wörtliche Übersetzung lautet: „Im Übrigen meine ich, Karthago ist eine zu zerstörende (Stadt)“. Noch wörtlicher, aber dann schon fast nicht mehr Deutsch: „Im Übrigen meine ich Karthago eine zu zerstörende zu sein.“

Vermutlich war das Gerundiv schon bei den Römern eher der gehobenen als der Alltagssprache zuzurechnen. Das ist es jedenfalls im heutigen Deutsch. Manche halten es für gestelzt und betrachten es daher als eine „zu vermeidende Form“; andere aber sehen darin eine zusätzliche Ausdrucksmöglichkeit und betrachten das Gerundiv – neben anderen -iven wie Genitiv, Konjunktiv und Superlativ – als einen weiteren funkelnden Edelstein in der Schatzkammer unserer Grammatik.

Man nennt es im Deutschen auch das „zu-Partizip“, weil es mit „zu“ gebildet wird – und mit der Form des ersten Partizips. Und das erste Partizip (auch Präsenspartizip genannt) endet im Deutschen immer auf -nd: lesend, reisend, sitzend, fahrend, schlafend, lachend etc.

Darum sind Länder, die unbedingt noch befahren werden müssen, nicht „zu befahrene Länder“, sondern „zu befahrende Länder“.

Ihr Irrtum resultierte vermutlich aus der Tatsache, dass die Form „befahren“ ebenfalls ein Partizip ist, und zwar ein Perfektpartizip. Es gibt durchaus „befahrene Länder“, das sind die, die man schon befahren hat. Das Gerundiv verweist aber auf etwas, das noch aussteht, und wird daher nicht mit dem Perfektpartizip, sondern mit dem Präsenspartizip gebildet.

Ich hoffe, meine Antwort war eine gut zu verstehende, und verbleibe mit herzlichen Grüßen ins unbedingt mal wieder zu bereisende schöne Mailand

Ihr Zwiebelfisch

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13 Kommentare

  1. Stephan Chrzescinski

    Hinzu kommt, dass ein zu befahrenes Land eindeutig unter zu hoher Verkehrsdichte leidet.

  2. Cato der Ältere sagte den Satz „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam“ am Ende jeder seiner Reden, unabhängig davon, ob dieser Satz nun zum Thema seiner Rede passte oder nicht.

  3. Otto Schwarzer

    Das Gerundiv(um) ist im Deutschen gar nicht so selten. Denken wir z. B. an den/die Auszubildende oder an Nomina, die aus dem Lateinischen stammen wie Reverend, Agenda, Addendum.
    Man könnte sie auch kurz Nd-Wörter nennen – dann hat man auch gleiche eine für beide Sprachen die richtige Bezeichnung, die bei Wörtern lateinischen Ursprungs auch für das Englische gilt (z. B. Agenda, Corrigenda).

  4. Maike Müller

    Lieber Zwiebelfisch!
    Zu diesem Thema habe ich auch eine Frage: Kurz nach der Geburt meiner Zwillinge begrüßte mich eine Bekannte mit den Worten: „Da ist ja die gewordene Mutter! Herzlichen Glückwunsch zu den Zwillingen!“
    Im ersten Moment bedankte ich mich für die Glückwünsche, musste aber im Nachhinein lange über den Ausdruck „die gewordene Mutter“ nachdenken und frage mich, ob es diesen tatsächlich gibt.
    Ich meine, es klingt ja irgendwie logisch: vor der Geburt ist man werdende Mutter, und nach der Geburt ist man Mutter geworden, also: gewordene Mutter.
    Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir diese Frage beantworten könnten.
    Mit fragenden Grüßen,
    Maike Müller

  5. @Rainer Göttlinger:
    „eine „zu befahrene” für den rollenden Verkehr geeignet (also befahrbar)“

    Ich glaube, Sie irren. „Eine zu befahrene Straße“ ist ein Fehler, der zufällig trotzdem einen grammatisch richtigen Satz ergibt, der aber nicht gemeint ist.

    „Befahren“ ist das Perfekt-Partizip von „befahren“. Wenn davor „zu“ steht, kann das an der Stelle nur noch ein Gradpartikel sein (das Wort habe ich gerade bei Wiktionary gefunden).

    Darauf hat Stephan Chrzescinski hingewiesen. Eine befahrene Straße ist eine Straße, auf der gefahren wird, entsprechend gibt es wenig, viel oder auch zu befahrene Straßen.

    Ist natürlich nicht gemeint und wäre es gemeint, würde es anders formuliert werden.

    • Rainer Göttlinger

      @Arnd: die Bedeutung von „zu befahren“ erschließt sich, wenn Sie ein Steigerungspartikel davor setzen: „diese Straße ist besser zu befahren als die andere“. Weil die Alternative „befahrbar“ nämlich nicht steigerungsfähig ist.

  6. @Rainer: Interessant, Sie haben recht, das ist ja gar kein Partizip, sondern ein Infinitiv.
    (In diesem Fall identisch, eine der vielen Sprachfallen im Deutschen.)

    Ich frage mich aber, ob „zu“+Infinitiv überhaupt gebeugt werden kann. Eine Straße ist (gut oder schlecht) zu befahren, ein Buch zu kaufen, eine Frage zu verstehen.

    Aber lässt sich daraus ableiten: Eine zu befahrene Straße, ein zu kaufenes Buch, eine zu verstehene Frage…? Mein Sprachgefühl sagt nein …

  7. @Bernhard:
    Meine Spekulation: Die Endung -end deutet an, dass das ursprünglich vielleicht gar kein Adjektiv ist, sondern eine Form des Verbes „anwesen“, das es heute nicht mehr gibt.

    Die Wikipedia hat beim Eintrag zum Substantiv Anwesen einen Hinweis auf ein solches Verb.

    Die Substantivbildung „Anwesenheit“ könnte also auf der Grundform dieses historischen Verbs beruhen.

    Auf uni-leipzig.de ist aber auch die Schreibweise „Anwesendheit“ zu finden.

    https://de.wiktionary.org/wiki/Anwesen
    http://wortschatz.uni-leipzig.de/cgi-bin/wort_www.exe?site=2&Wort_id=31066958

  8. Rainer Göttlinger

    Zu alledem gibt es auch noch regionalsprachliche Unterschiede. Eine „befahrene” Straße ist eine Straße unter Verkehr, eine „zu befahrene” für den rollenden Verkehr geeignet (also befahrbar), eine „zu befahrende” die einzige zum Ziel führende. Bei uns in Mittelfranken ist die „befahrene” Straße eine mit starkem Verkehr, die „zu befahrene” für z.B. Radfahrer lebensgefährlich, und das Gerundiv gibt’s schlichtweg nicht.

  9. Wilhelmina Roling-Ludwig

    Richtig, Zwiebelfisch!
    Ich bin zwar schon lange aus Deutschland weg, aber freue mich immer sehr, wenn ich in den meisten Faellen noch weiss und mich daran erinnere, was ich im Deutsch-Unterricht gelernt habe.
    Nicht leicht nach 50 Jahren, das koennen Sie mir glauben.
    Mein Mann ging nach Schul Pforta in die Schule, musste fluechten von dort, gerade vor dem Abitur, dann machte er dieses spaeter in West-Deutschland, sprach zu mir in Latein und konnte auch ziemlich gut Griechisch verstehen und so, so, so schreiben.
    Natuerlich, da ich einige Jahre juenger war, war ich nicht halb so gut in allem und doch wurde seine Kritik nur mit einem Laecheln ausgesprochen.
    Danke Ihnen fuer’s ‚Zuhoeren‘ in dieser zu kurz hoerenden
    Generation.
    Wilhelmina (keiner heisst so in dieser Zeit)

    … und ich sage mit Kurt Vonnegut: ‚Ha, ha, ha‘ – der Mensch fragt: „Warum, warum, warum?“ Dann macht allen ‚vor‘ er versteht.-

    Nochma, Wilhelmina

  10. Lieber Zwiebelfisch, liebe andere Interessierte,
    ich habe da mal eine Frage aus meinem Berufsleben als Deutschlehrer an einer Hochschule in Japan, wo ich zu Beginn jeder Unterrichtsstunde die Anwesenheit(so korrekt nach Duden) der Studenten feststellen muss. Dabei überprüfe ich, ob die Studenten anwesend sind, also ist es doch die Anwesendheit mit ‚d‘, die ich überprüfe, oder?
    Ob es sinnvoll sein kann, die Teilnahme am Unterricht von erwachsenen Menschen dokumentieren zu müssen, sei hier mal dahingestellt, das ist eine Frage außerhalb meiner Zuständigkeit, aber wohin das fehlende ‚d‘ entschwunden ist, das beschäftigt mich schon seit Jahren! Wer weiß Rat?

  11. @Rainer: Interessant, Sie haben recht, das ist ja gar kein Partizip, sondern ein Infinitiv.
    (In diesem Fall identisch, eine der vielen Sprachfallen im Deutschen.)

    Ich frage mich aber, ob „zu“+Infinitiv überhaupt gebeugt werden kann. Eine Straße ist (gut oder schlecht) zu befahren, ein Buch zu kaufen, eine Frage zu verstehen.

    Aber lässt sich daraus ableiten: Eine zu befahrene Straße, ein zu kaufenes Buch, eine zu verstehene Frage…? Mein Sprachgefühl sagt nein …

  12. @Bernhard:
    Meine Spekulation: Die Endung -end deutet an, dass das ursprünglich vielleicht gar kein Adjektiv ist, sondern eine Form des Verbes „anwesen“, das es heute nicht mehr gibt.

    Die Wikipedia hat beim Eintrag zum Substantiv Anwesen einen Hinweis auf ein solches Verb.

    Die Substantivbildung „Anwesenheit“ könnte also auf der Grundform dieses historischen Verbs beruhen.

    Auf uni-leipzig.de ist aber auch die Schreibweise „Anwesendheit“ zu finden.

    https://de.wiktionary.org/wiki/Anwesen
    http://wortschatz.uni-leipzig.de/cgi-bin/wort_www.exe?site=2&Wort_id=31066958

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