Montreal ist auch im Winter sehr schön. Bei meiner Ankunft sagte man mir, dies sei der mildeste Winter seit langem, und es hätte noch nie so wenig geschneit. Das änderte sich prompt am nächsten Tag. Abends setzte dichter Schneefall ein, und seitdem wechselt es hier zwischen Schneegestöber mit eisigem Wind und Tauwetter mit Matsch.
Ich kenne Montreal ja schon von einem Besuch in den neunziger Jahren, allerdings mit sommerlichen Temperaturen. Aber auch im Winter ist es schön hier. Man muss sich nur entsprechend darauf einstellen. Der umsichtige Herr zieht beim Verlassen der Wohnung Neopren-Überzieher über seine Designerschuhe. Die sind rutschfest und wasserabweisend. Und wenn’s auf der Straße zu ungemütlich wird, kann man jederzeit abtauchen in die Unterwelt, denn Montreal ist komplett untertunnelt. Unter der Erde erstreckt sich ein gewaltiges Netz aus Ladenpassagen, die alle miteinander verbunden sind.
Ich habe in diesen paar Tagen viel gesehen und erlebt. Familie Goethe ist ja immer so herzlich! Besonders ist der Buchhändler Louis Bouchard zu erwähnen, dem die kleine Buchhandlung im Goethe-Institut gehört. Er hat mir an zwei Tagen die Stadt gezeigt hat – einmal an der Oberfläche, und einmal in der Unterwelt. Louis ist ein wandelndes Lexikon, er kennt sich in allen Bereichen aus: sowohl in der Geschichte Kanadas als auch in der Literatur, der Kunst und der Musik. Außerdem wusste er einige schöne Klatschgeschichten über die kanadische Prominenz zu berichten.
Beim Rundgang durch die Altstadt lernte ich, die unterschiedlichen Baustile zu erkennen, und erfuhr unter anderem, dass der charakteristische rote Stein einst mit Segelschiffen aus Liverpool herbeigeschafft wurde. Die Steine dienten eigentlich nur zur Beschwerung, um die leeren Schiffe, die in Kanada mit Holz beladen werden sollten, seefest zu machen. Louis zeigte mir die mit edlen Hölzern und goldenen Beschlägen ausgestattete Royal Bank of Canada, den modernen Kongresspalast, das Gelände der Weltausstellung des Jahres 1967, fuhr mit mir über die Formel-1-Piste des Grand Prix du Canada (ganz vorsichtig) und brachte mich auf den Berg Mont Real, auf dem Villen der Reichen stehen und dem die Stadt ihren Namen verdankt: Königsberg.
Mein Besuch ist übrigens nicht folgenlos geblieben: Louis führte mich auch in die St.-Josefs-Kirche, ein Bauwerk aus den 60er-Jahren, das von einem gewissen Pater André errichtet worden ist, dem Wunderheilungen nachgesagt werden. Ich machte ein Foto von seiner Statue. Für den Bruchteil einer Sekunde ließ mein Blitz den Altarraum und das Gesicht des Paters aufleuchten. Einen Tag später wurde Pater André vom Vatikan heilig gesprochen. Was so ein kleiner Blitz nicht alles ausrichten kann, dachte ich erstaunt.