Donnerstag, 18. April 2024

Wir sind die Bevölkerung!

Manchmal geschieht es, dass Wörter, die jahrelang in aller Munde waren, aus der Mode geraten. Manche geraten sogar in Vergessenheit. Andere werden aus dem Wortschatz gestrichen, weil sie den Kriterien der „political correctness“ widersprechen.

So wie das Wort „Negerkuss“. Den Traum aus Eiweißschaum und Schokoladenglasur darf man inzwischen nur noch Schokokuss nennen, weil Negerkuss ein diskriminierendes Wort ist. Auch „Mohrenkopf“ ist nicht mehr akzeptabel. Dass die österreichische Bezeichnung „Schwedenbombe“ als diskriminierend empfunden würde, ist mir nicht bekannt. Irgendwo in Bayern sagt man auch „Bumskopf“ dazu, und auch darüber hat sich noch keiner beschwert.

Die Empfindlichkeiten sind nicht überall gleich stark, so wurden noch am Tag der Deutschen Einheit des Jahres 2005 in Ost-Berlin auf einem knalligen Straßenverkaufsschild Frische „Ost“ Negerküsse angepriesen, wobei das Wort „Ost“ in Anführungszeichen stand, weil der Händler die Unterscheidung zwischen Ost und West ausgerechnet am Tag der Deutschen Einheit offenbar für scherzhaft hielt. Die „Negerküsse“ hingegen standen nicht in Anführungszeichen, mit denen schien alles in bester politischer Ordnung zu sein.

Andere Wörter geraten in Verruf, weil sie für unheilige Zwecke missbraucht wurden. So erging es dem Wort „Volk“. Vielen war es nach 1945 nicht mehr genehm, da es von den Nationalsozialisten gehörig überstrapaziert worden war; angefangen vom „Volk ohne Raum“ bis hin zum Volkssturm. Das Adjektiv „völkisch“ war völlig unbrauchbar geworden, und viele Zusammensetzungen mit „Volk“ hatten einen bitteren Beigeschmack bekommen. Spätestens seit den sechziger Jahren, als man dazu überging, die Geschichte nicht länger zu verdrängen, sondern aufzuarbeiten, gingen Politiker, Journalisten und Lehrer dem unbequemen Wort zunehmend aus dem Weg.

„Volk“ hatte einen bitteren Beigeschmack, vor allem in Verbindung mit dem Adjektiv „deutsch“. Das „deutsche Volk“ war zu lange marschiert und zu entschlossen gewesen, seinem „Führer“ in den Untergang zu folgen. Nun war es außerdem geteilt. Das machte es noch schwieriger, vom „deutschen Volk“ zu sprechen, da man sich jedes Mal klarmachen musste, welches Deutschland überhaupt gemeint war.

Doch ohne einen Sammelbegriff für die Menschen eines Landes oder einer Region kommt die Sprache auf Dauer nicht aus, es musste also ein Ersatzwort gefunden werden; eines, das unbelastet und unverfänglich war. So kam man auf „Bevölkerung“. Ein Wort, das Volk enthielt und Volk beschrieb, ohne allzu laut danach zu klingen. Es war perfekt! Und man brauchte es noch nicht einmal zu erfinden, denn es existierte bereits seit dem 18. Jahrhundert.

Ursprünglich allerdings hatte es eine andere Bedeutung, denn „Bevölkerung“ kommt von „bevölkern“. Im Jahre 1732 wurde das schwach besiedelte Ostpreußen mit 40.000 Kolonisten aus deutschsprachigen Gegenden bevölkert. Die von Friedrich Wilhelm I. angeordnete „Bevölkerung Ostpreußens“ war ein Vorgang, in dessen Folge das Volk Ostpreußens anwuchs.

Von seiner grammatischen Struktur ist das Wort „Bevölkerung“ also kein Kollektivum (= Sammelbegriff) wie „Volk“, sondern beschreibt einen Vorgang: den Vorgang des Bevölkerns. Es bedeutend somit nicht „Volk“, sondern „Besiedelung“. Es bedeutet ja auch Bewässerung nicht dasselbe wie Wasser, Bestäubung nicht dasselbe wie Staub, Beschränkung nicht dasselbe wie Schranke und Beschwörung nicht dasselbe wie Schwur.

Streng genommen ist die Verwendung von „Bevölkerung“ als Ersatzwort für „Volk“ also grammatisch ungenau. Dennoch hat das Wort „Bevölkerung“ die Bedeutung „Volk“ übernommen. Derartige Wechsel kommen gelegentlich vor, man denke nur an die „Studierenden“, die immer wieder als Synonym für „Studenten“ herhalten müssen, obwohl sie aus einem Partizip hervorgegangen und im Grunde nicht mehr mit Studenten gemein haben als Lauschende mit Lauschern und Trinkende mit Trinkern.

„Bevölkerung“ wird doppelt so oft verwendet wie „Volk“, und zwar hauptsächlich in Texten mit aktuellem Bezug, während das Wort „Volk“ oft ein Indikator für einen älteren Kontext ist. Sucht man im Internet nach dem „französischen Volk“, so findet man hauptsächlich Stellen mit historischem Bezug, zum Beispiel Texte über die Französische Revolution. Wenn es aber um die heutigen Franzosen geht, dominiert der Ausdruck „französische Bevölkerung“. Früher erhob sich das Volk, heute protestiert die Bevölkerung.

Dass das Wort „Bevölkerung“ kein vollwertiges Volks-Synonym, sondern ein sprachlicher Notbehelf ist, zeigt sich an seiner begrenzten Verwendbarkeit. In Zusammensetzungen nämlich vermochte es das Wort „Volk“ nicht zu ersetzen. Oder haben Sie jemals an einem Bevölkerungsbegehren teilgenommen, ein Bevölkerungsfest gefeiert oder einen Bevölkerungswagen gefahren?

In den Ohren der Jüngeren mag das Wort „Volk“ altmodisch klingen, doch es ruft bei ihnen keine unangenehmen Assoziationen wach. Die Vorbehalte der Kriegs- und Nachkriegsgeneration sind veraltet und halten einer sprachkritischen Prüfung nicht mehr stand. Im Unterschied zum „Negerkuss“ und zum „Mohrenkopf“ steht das Wort „Volk“ nicht auf der Liste der unzumutbaren Wörter. Stattdessen steht es zum Beispiel im Grundgesetz.

„Volk“ ist ein stärkeres Wort als „Bevölkerung“ – klanglich wie inhaltlich. Es hat mehr Gewicht und Wirkung. Einen eindrucksvoller Beleg liefert die jüngste deutsche Geschichte: Der Ruf der Demonstranten, die im Jahre 1989 auf die Straßen gingen, um gegen das System der DDR zu protestieren, hieß: „Wir sind das Volk!“ Es ist fraglich, ob die Revolution in Ostdeutschland genauso eindrucksvoll verlaufen wäre, wenn die Demonstranten gerufen hätten: „Wir sind die Bevölkerung!“

(c) Bastian Sick 2006


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.

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