Sonntag, 20. Oktober 2024

Und täglich berichten die Kreise

Wir alle haben schon oft gehört oder gelesen, dass jemand in bestimmten Kreisen verkehrt, und gelegentlich sieht man auch, wie sich jemand im Kreisverkehr verfährt. So etwas lässt sich erklären. Doch was zum Teufel hat es mit all den vielen Kreisen auf sich, aus denen ständig und immerzu zitiert wird?

Kaum schlägt man die Zeitung auf oder ruft seine Lieblingsnachrichtenseite im Internet auf, schon stolpert man über sie: Regierungskreise, Unternehmenskreise, Militärkreise, Führungskreise – Kreise, wohin das Auge blickt. Kreise in allen Formen und Größen. Selbst vor Kardinalskreisen und Rebellenkreisen ist man nicht sicher.

Kreise sind die Kronzeugen des Zeitgeschehens. Was immer in Politik und Gesellschaft getuschelt, gemunkelt, geklatscht und spekuliert wird – die Nachrichtenwelt erfährt es meistens aus irgendwelchen Kreisen.

Wie entstehen solche Kreise? Zum Beispiel so: Ein Reporter ruft einen Staatssekretär an, um ihm eine Stellungnahme zu einem brisanten Thema zu entlocken. Der Staatssekretär salbadert in gewohnter Manier drauflos, redet sich richtig schön in Fahrt, lässt sich zu leichtsinnigen Äußerungen hinreißen, beleidigt seine politischen Gegner und gibt womöglich parteiinterne Geheimnisse preis – und wenn der Reporter fragt: „Kann ich das zitieren?“, dann lautet die Antwort: „Aber halten Sie meinen Namen raus! Das haben Sie nicht von mir, haben Sie mich verstanden?“ Da es sich der Reporter mit dem Staatssekretär nicht verscherzen will, hält er sich daran, und so liest man anderntags in der Zeitung: „… hieß es aus Kreisen der Regierung.“

Kreise sind für den Journalisten ein wichtiges Hilfsmittel, fast noch wichtiger als die automatische Rechtschreibprüfung von Microsoft. Denn viele Informationen kämen nie oder nur mit erheblicher Verspätung in den Umlauf, wenn man sich nicht auf „Kreise“ berufen könnte. Oftmals werden Informationen überhaupt nur unter der Bedingung preisgegeben, dass der Name des Informanten nicht genannt wird. „Das habe ich Ihnen unter zwei gesagt“, bekommt der Journalist dann zu hören. Das ist für ihn das Signal, beim Zitieren auf „Kreise“ auszuweichen. „Unter eins“ bedeutet: „Sie dürfen mich wörtlich zitieren“. Aussagen, die man „unter zwei“ gesagt bekommt, darf man zitieren, aber ohne Nennung der Quelle; und alles, was man „unter drei“ gesagt bekommt, das muss man ganz für sich behalten, jedenfalls fürs Erste.

Je heißer das Eisen, das ein Journalist anfassen will, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ihm als zitierfähige Quellen nur ominöse Kreise zur Verfügung stehen.

Adelsreporter zum Beispiel brächten ohne Kreise vermutlich keine einzige Zeile zu Papier. Kaum hat mal wieder jemand im Buckinghampalast gegen die Etikette verstoßen und die Queen ihrem Ärger beim nachmittäglichen Fünf-Uhr-Tee Luft gemacht, liest man beim Friseur: „Wie aus Palastkreisen verlautete, war die Queen not amused.“ Für viele Briten mag der Buckinghampalast der Nabel der Welt sein, um den sich alles dreht. Daher ist die Assoziation eines Kreismittelpunktes, von dem aus sich beim geringsten Hüsteln der Queen konzentrische Ringe über die gesamte Oberfläche der britischen Gesellschaft verbreiten, nicht ganz abwegig. Wer sich mit der Regenbogenpresse auskennt, weiß aber, dass die Kreise vor allem aus Geiern bestehen, die unaufhörlich um den Palast flattern, die Kamera und das Tonbandgerät permanent im Anschlag, und die in ständiger Verbindung stehen mit sämtlichen Kammerdienern, Zofen, Gärtnern und engsten Freundinnen irgendeiner Lady Chatterer, die zufällig dabei war und genau gesehen haben will, wie die Königin für einen kurzen Augenblick die Contenance verlor.

Und das ist noch der günstigste Fall. Im ungünstigeren – und vermutlich häufigeren – Fall steht der Hofberichterstatter nur mit anderen Hofberichterstattern in Verbindung und kennt weder einen Kammerdiener noch eine Zofe, geschweige denn eine enge Freundin von irgendwem; dann verbirgt sich hinter den zitierten Palastkreisen nichts weiter als ein Ondit. Das ist Französisch und bedeutet Gerücht.

„Kreise“ können für vier verschiedene Gruppen von Informanten stehen. Erstens für die „darf ich nicht verraten“, zweitens für die „zu unbedeutend, um mit Namen genannt zu werden“, drittens für die „hab mir den Namen zwar irgendwo notiert, kann ihn im Moment aber nicht finden“ und viertens für die, deren Existenz nicht bewiesen werden kann. Diese letzte Kategorie findet man vor allem links und rechts des Boulevards, in seriösen Redaktionen hat sie selbstverständlich Hausverbot.

Der wesentliche Vorzug der Kreise liegt in ihrer formlosen Beschaffenheit. Sie sind wie Nebel gestaltlos, transluzent, ungreifbar. Und damit auch unwiderlegbar. Kreise sind praktisch, das lässt sich nicht leugnen. Daher ist die Versuchung groß, sich ihrer häufiger zu bedienen, als dem Informationsgehalt gut tut. Denn da Kreise nun einmal nicht dingfest zu machen sind, wirkt sich ihr verstärktes Auftreten zu Lasten der Glaubwürdigkeit aus. Da hilft es auch nichts, sie in altmodischer Manier mit Attributen wie „wohlunterrichte“, „eingeweiht“ oder „gut informiert“ zu schmücken. Die Annahme, die Kreise würden durch solche Zusätze glaubwürdiger, um nicht zu sagen runder, ist trügerisch.

Lästig ist auch die Angewohnheit, die einmal in den Text eingeführten Kreise weiter zu verwenden und dabei auf eine nähere Bestimmung zu verzichten. Es heißt dann einfach nur noch „verlautete aus den Kreisen“ oder „hieß es aus den Kreisen“, quasi analog zu bekannten Versatzstücken wie „sagte der Sprecher“ oder „erklärte der Minister“.

Man kann sich fragen, welchen Informationswert solche Angaben haben: „… war aus den Kreisen zu vernehmen“, „hieß es aus den Kreisen“. Vor allem darf man sprachästhetische Zweifel anmelden. Schon allein das allzu häufig nachgeschobene „hieß es“ ist hilflos; das Anhängen irgendwelcher Kreise verbessert nicht den Lesefluss, sondern verwässert den Lesegenuss.

Am tollsten wird’s jedoch, wenn plötzlich Kreise auftauchen, die zu keinem Zeitpunkt im Text näher bestimmt und zugeordnet werden. Kreise, die aus dem Nichts auftauchen, durch nichts erklärt werden und somit nichts besagen. Da heißt es zum Beispiel:

„Kreisen zufolge geschah dies bereits im Juli 2001, also vor den Terroranschlägen, und damit bevor die Luftfahrtbranche in die Krise stürzte.“ („Börsen-Zeitung“)

Um welche Kreise es sich handelt, muss sich der Leser aus dem Zusammenhang selbst zusammenreimen. Und dass er sich Dinge selbst zusammenreimen muss, ist eigentlich nicht der Sinn einer Meldung.

„Kurz vor Verabschiedung der Gesundheitsreform im Kabinett wurde der Entwurf im Detail noch verändert. Wie aus Kreisen verlautete, sollen Apotheker künftig beliebig viele Apotheken führen dürfen.“ („Die Welt“)

Dass hier Regierungskreise gemeint sein könnten, liegt im Bereich des Wahrscheinlichen, Gewissheit hat der Leser jedoch nicht.

„Die CDU in Nordrhein-Westfalen schließt nach Angaben aus Kreisen den Rückzug des Bundesfraktionsvorsitzenden aus dem Parteipräsidium nicht mehr aus.“ (SPIEGEL ONLINE)

Welche Kreise mögen hier gemeint sein? Rhein-Sieg-Kreis? Lippe? Minden-Lübbecke? Hochsauerland-Kreis? Nein, die Kreise, um die es hier geht, sind auf keiner Karte und keinem Autokennzeichen zu finden. Vielmehr handelt es sich um Parteikreise, aber das wollte der Verfasser aus unerfindlichen Gründen nicht enthüllen. Und es kreist munter weiter:

„Im EU-Verfahren gegen den Software-Riesen hat Kreisen zufolge Konkurrent Real-Networks demonstriert, dass Microsoft sein Windows-Betriebssystem nicht ausschlachten muss, um die EU-Forderungen zu erfüllen.“ („Frankfurter Rundschau“)

Ein Freund, dem ich meine Besorgnis über die Zunahme der unbestimmten Kreise im Nachrichtenwesen mitteilte, wusste eine Antwort: „Das geht zurück auf die wilden Siebziger! Damals hat doch jeder Journalist Trips eingeworfen, davon bekam er Halluzinationen und sah lauter psychedelische Kreise. Das wirkt offenbar bis heute nach.“ Vielleicht hat er Recht. Die Welt mag sich im Kreis drehen, in der Medienwelt dreht sich alles um Kreise.

„Störe meine Kreise nicht“, soll der griechische Gelehrte Archimedes einem römischen Soldaten zugerufen haben, der nach der Eroberung von Syrakus in sein Haus eindrang. Gemeint waren die geometrischen Figuren, die Archimedes in den Sand gezeichnet hatte. Dieser Ausspruch steht, in leicht abgewandelter Form, im Gebetbuch manches Journalisten gleich auf Seite eins: „Bitte lasst mir meine Kreise!“ Er soll sie ja auch behalten. Nur soll er pfleglich mit ihnen umgehen, das heißt, sie nicht überstrapazieren und vor allem nicht unerklärt lassen. So verlautet aus Zwiebelfischkreisen.

(c) Bastian Sick 2004


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 2“ erschienen.

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