Wie steigert man „alt“? Ganz einfach, werden Sie sagen: alt, älter, am ältesten. Aber hat ein älterer Mensch tatsächlich mehr Jahre auf dem Buckel als ein alter Mensch? In Wahrheit ist der ältere der jüngere!
Am letzten Sonntag hat mich Felix im Scrabble geschlagen. Noch vor ein paar Jahren hätte ich ihn mit ein paar Tricks und Tipps gewinnen lassen, doch inzwischen ist er so gut, dass er meine Tricks und Tipps nicht mehr braucht. Und dabei ist er erst zwölf Jahre alt. Felix würde allerdings nicht „erst zwölf“ sagen, sondern „schon zwölf“. Es ist immer eine Frage des Standpunkts. Erst hatte ich das Wort „bitte“ zu „bitter“ verlängert, was mir immerhin zehn Punkte einbrachte. In der nächsten Runde hängte ich noch ein „er“ an; dieser Coup brachte mir zusätzliche 13 Punkte ein. Felix bewies, wie schnell Kinder von Erwachsenen lernen, und verlängerte das Wort um ein weiteres „er“. „Moment mal“, protestierte ich, „was steht da jetzt? Bitt-er-er-er? Das Wort gibt es doch gar nicht!“ — „Und ob!“, rief Felix, „und es wird ein noch bittererer Schlag für dich, wenn du erst die Punktzahl hörst! Ich komme nämlich auf dreifachen Wortwert!“ — „Oh nein“, stöhnte ich, „14 Punkte, multipliziert mit drei, dafür brauchen wir ja einen Taschenrechner!“
Beim Scrabble-Spiel sind Wortverlängerungen selbstverständlich erlaubt, solange sie sich grammatikalisch begründen lassen. Allerdings sieht nicht alles, was erlaubt ist, immer gut aus, und längst nicht alles, was wir uns so zurechtlegen, lässt sich gut sprechen. Ein dreifaches „er“ ist zwar möglich, klingt aber seltsam. Wenn mir so etwas unterkommt, frage ich mich immer, was andere wohl von unserer Sprache denken müssen.
Wenn einem heiteren Abend ein weiterer, noch heitererer Abend folgt, darf man sich jedenfalls nicht wundern, wenn man beim Referieren über so viel Heiteres eine trockene Kehle bekommt.
Adjektive zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie sich steigern lassen: groß, größer, am größten. Der Grundform, dem Positiv, folgt der Komparativ und schließlich der Superlativ. Aber nicht immer bedeutet die zweite Stufe eine tatsächliche Steigerung. Wer längere Haare trägt, muss nicht unbedingt langes Haar haben. Länger ist manchmal kürzer als lang. Der Komparativ ist eher ein Relativ. Das zeigt sich besonders beim Alter.
Ein älterer Mann ist noch nicht so alt wie ein alter Mann, auch wenn „älter“ die Steigerung von „alt“ ist. Darin offenbart sich ein weiteres Paradoxon unserer Sprache.
Laut Wörterbuch bedeutet „älter“ in diesem Fall „noch nicht alt, aber auch nicht mehr jung“, also irgendetwas zwischen — tja, und da stellt sich die Frage: Wo endet jung, wo beginnt alt? Wie soll man mit Vergleichsformen umgehen, wenn die Bezugspunkte so vage sind? Für Felix bin ich womöglich bereits ein „älterer Mann“, weil ich „schon über 40“ bin. Für andere bin ich „erst Anfang 40“. Mit etwas Glück falle ich noch in die Kategorie „jüngerer Mann“, das ist laut Wörterbuch jemand, „der nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt ist“. Hoppla, ist das nicht die gleiche Definition wie die des älteren Mannes? Jünger, älter — wo liegt die Grenze, wann geht der jüngere Mensch in den älteren Menschen über? Oder kommt noch etwas dazwischen? Wenn man nicht mehr jünger, aber auch noch nicht älter ist? Darüber gibt mein Wörterbuch leider keine Auskunft.
Das stellt hingegen fest, dass der Komparativ, das „mehr als“, sich längst nicht immer auf die Grundform des betreffenden Wortes beziehen muss, sondern sich sehr häufig auch auf die Grundform seines Gegenteils beziehen kann: „älter“ ist demnach die Steigerung zu „jung“, „länger“ die Steigerung zu „kurz“, „größer“ die Steigerung zu „klein“.
Während meines Studiums gab ich einmal einer reizenden Chinesin etwas Nachhilfe in Deutsch, und ich erinnere mich noch daran, wie ich bei dem Versuch, ihr dieses komplexe Thema zu vermitteln, fast verzweifelt wäre. „Eine ältere Frau ist jünger als eine alte Frau?“, fragte sie erstaunt. „Ja, so ist es“, erwiderte ich. Meine Nachhilfeschülerin schüttelte den Kopf: „Meine Großmutter ist 78 Jahre alt, und ihre große Schwester ist 82. Ich dachte immer, dass ihre große Schwester die ältere ist. Aber du sagst, dass meine Großmutter die ältere ist, weil sie jünger ist?“ Ich weiß nicht mehr, wie ich mich aus dieser Nummer gerettet habe, aber so richtig überzeugen konnte ich sie wohl nicht. „Vielleicht sollten wir beim nächsten Mal eine leichtere Übung machen“, schlug ich daher vor. „Ist eine leichtere Übung schwerer als eine leichte Übung?“, fragte sie skeptisch. „Das kommt drauf an“, sagte ich, „auf jeden Fall ist sie leichter als eine schwere.“
Ein paar Wochen später sagte sie mir, einer ihrer Lehrer habe behauptet, dass eine Übung weder leicht noch schwer sein könne, sondern allenfalls einfach oder schwierig. „Wenn man es genau nimmt, hat er Recht“, brummte ich, „aber wenn man es genauer betrachtet, geht beides.“ — „Ich verstehe“, sagte meine Nachhilfeschülerin, „genauer ist mehr als ungenau, aber weniger als genau!“ — „Nicht grundsätzlich“, erwiderte ich, „aber in diesem Fall stimmt es … genau!“
(c) Bastian Sick 2008
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.