Samstag, 19. Oktober 2024

Liebe Leserinnen und Leser!

P1090879.JPG_fZq20xA5_f

Das Warten hat ein Ende: Der sechste Band der Reihe „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ ist im Handel erhältlich. Aus diesem Anlass präsentiere ich hier exklusiv für die Besucher meiner Website die erste Fassung des Vorwortes. Viel Vergnügen!

Zum sechsten Mal schickt sich der Dativ an, dem Genitiv zum Verhängnis zu werden – und die Zeichen stehen günstig für ihn. Diesmal wird er endgültig triumphieren. Es sei denn …

Im Supermarkt sprach mich unlängst eine Dame an, die mich als den mit dem Dativ und dem Genitiv erkannt hatte: „Gestern las ich in der Zeitung in einem Leserbrief: ,Sie war die Großmutter von mir‘. Das ist doch grauenvoll! Ich unterrichte Deutsch als Fremdsprache, und meine Schüler kennen den Genitiv!“ Ich lächelte sie an und erwiderte: „Ich las kürzlich in der Zeitung die Überschrift: ,Letzter Kritiker von Putin ermordet.‘ – Das ist noch viel schlimmer, denn es ist hochgradig missverständlich. Und im Unterschied zu dem Leserbrief waren hier Journalisten am Werk.“ – „Es scheint wohl hoffnungslos“, meinte die Dame kopfschüttelnd, „was soll man da noch machen?“ – „Vor allem: nicht aufgeben! Es liegt bei jedem selbst, seine Sprache zu bilden und von ihren reichen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Unterrichten Sie den Genitiv weiterhin! Vielleicht wird man eines Tages die Zuwanderer daran erkennen, dass sie den Genitiv beherrschen, während die hier im Lande Geborenen sich nur noch mit ,von‘ zu behelfen wissen.“

Der Genitiv ist der Fall der Zugehörigkeit und der Besitzanzeige. Vor allem aber ist er der Kasus der Gebildeten. Das war er schon zu Luthers Zeiten. Denn in der Sprache des Volkes, den Dialekten, kam er praktisch nicht vor. Und die Schicht der Gebildeten war in früheren Jahrhunderten noch sehr viel dünner. Und für die Verbreitung der Hochsprache standen vergleichsweise bescheidene Mittel zur Verfügung. Es gab gerade mal den Buchdruck, aber kein Radio, kein Fernsehen und erst recht kein Internet. Trotzdem hat es der Wesfall geschafft, bis heute zu überdauern. Darum wird es ihn auch weiterhin geben. Wenn die Gebildeten nicht selbst beschließen, ihn abzuschaffen. So manche Schulreform der letzten 20 Jahre deutet darauf hin, dass Pädagogen und Bildungspolitiker die Latte freiwillig tieferlegen, um alles aus dem Weg zu räumen, was den jungen Menschen die Lust an der Schule verleiden könnte: Grammatikunterricht, Gedichtelernen, Schreibschrift, alles steht zur Disposition – und das nicht etwa, weil die Mehrheit im Lande es so will, sondern weil Bildungspolitiker sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen müssen, um sich und ihre Funktion zu rechtfertigen.

Vielleicht ist der Genitiv verloren, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht steht seine große Stunde noch bevor. Die Sprachentwicklung folgt stets den neusten Moden, und vielleicht kommt es eines Tages wieder in Mode, sich „des Genitivs zu befleißigen“, wo immer sich die Gelegenheit dazu bietet. Das letzte Wort in Sachen zweiter Fall ist noch lange nicht gesprochen. Damit nun wünsche ich viel erbauliches Vergnügen mit Dativ, Genitiv und all ihren Freunden in „der Hexalogie ihr letzter Teil“.

Bastian Sick

Lesen Sie auch:

Das Wunder des Genderns

Kein sprachliches Thema hat die Gemüter in den letzten Jahren so sehr bewegt und erhitzt …

9 Kommentare

  1. Spätestens Twitter wird dem Genitiv wieder zu neuem Ruhm verhelfen, wenn die zulässige Zeichenanzahl herangesetzt wird.
    Dann wird aus:
    „… der Freund von der Frau Müller ihrer Tochter hat…“ wieder
    „… Frau Müllers Tochter Freund hat …“.
    Wenn das kein Fortschritt wäre …

    • Na… da fehlt aber bei aller Zeichensparsamkeit ja wohl doch noch ein kleines Genitiv-s… Oder nicht? 😉
      Es müßte gemäß dieses Sinnes doch heißen: „Frau Müllers Tochters Freund hat…“!
      🙂

    • Nicht Frau Müllers Tochters Freunds Kanarienvogel?
      (… um es mal auf das spitze S zu treiben 😉

    • Mag ja sein, Alex,
      aber das übrige Twitterdeutsch spottet jeglicher Beschreibung. Und wenn man sieht, wer was wie schreibt, so muss man sich eigentlich nicht wundern …

  2. Thomas Bellenbaum

    Als Beamter der öffentlichen Verwaltung (oder einfacher: als Verwaltungsbeamter) kann ich versichern, dass der Genitiv nicht verschwinden wird, solange die Amtssprache existiert! Im Gegenteil, es ist mitunter schwierig, wenn nicht gar unmöglich, ein Schreiben ohne Genitiv zu verfassen, wenn man „Bandwürmer“ vermeiden will.

  3. Norbert Braumann

    Wes‘ Brot is ess‘, des‘ Lied ich sing‘. (?)
    (Wessen Brot ich esse, dessen Lied ich singe.)
    Oder habe ich da ein paar (Auslassungs-)Apostrophe zuviel gesetzt? Wesfall? Was ist wes? Wessen? Fragen, die ich mir noch nie gestellt habe …

    • Da sind wohl alle Apostrophe fehl am Platz bzw. überflüssig, denn nicht nur wessen ist ein Genitiv, sondern auch wes – was auch der „Wesfall“ belegt, der mitnichten „Wessenfall“ heißt …

  4. Sollte es tatsächlich sein, dass dem „Vater von Genitiv und Dativ“ (oder wem auch immer) beim Korrekturlesen ein Fehler durch die Lappen gegagngen ist? Und zwar in dem Satz „Und für die Verbreitung der Hochsprache standen vergleichsweise bescheidene Mittel zu[r] Verfügung.“ Ist das für meine Begriffe unumgängliche „r“ in eckigen Klammern einfach so im digitalen Nirvana abhanden gekommen oder aber handelt es sich hier um eine mir unbekannte Form der Ausdrucksweise?

  5. Bitte weiter so!!!!
    Ich bin Lektorin und rette den Genitiv, wo ich kann.
    Viele Grüße
    Doris Ruge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert