„SCHEISSE DEUTCHEN“ ist in großen Lettern an die Wand gesprayt. Man steht betroffen davor und erkennt: Da hat sich mal wieder eine von uns Deutschen enttäuschte Seele den Frust aus der Dose gesprüht. Doch neben der persönlichen Verbitterung eines Einzelnen zeugt dieses Graffito noch von einem ganz anderen Problem.
„SCHEISSE DEUTCHEN“ ist falsches Deutsch, und zwar in mehrfacher Hinsicht: In der knackigen Formel sind nicht weniger als vier Fehler versteckt. „SCHEISSDEUTSCHE“ muss es heißen. Der Duden sieht bei Fügungen mit dem als „derb“ qualifizierten Wort „Scheiß“ Zusammenschreibung vor und nennt als Beispiele: Scheißdreck, Scheißhaus, Scheißkerl, Scheißladen, Scheißwetter. Nun hat nicht jeder, der irgendwo ein Graffito an die Wand sprüht, immer einen Duden zur Hand. Und selbst, wenn: Das Wort „Scheißdeutscher“ hätte er darin nicht gefunden. Und selbst, wenn: Es bliebe immer noch die Frage, wie man es richtig dekliniert und wie die Mehrzahl lautet. Das bereitet übrigens nicht nur Ausländern Probleme. Auch wir Deutschen haben bekanntermaßen mit unserer Grammatik Schwierigkeiten. Gerade, wenn es um uns Deutsche geht. Wer hätte nicht schon mal gestutzt und sich ratlos am Kopf gekratzt bei dem Versuch, die Deutschen korrekt zu beugen?
Das Elend beginnt schon im Singular. Ein Deutscher fliegt nach Afrika. Dort ist er „der Deutsche“. Wo ist plötzlich das „r“ abgeblieben? Haben es die afrikanischen Zöllner konfisziert? Nein – der Deutsche hat es sich selbst abgeschnitten, beim Wechsel vom unbestimmten („ein“) zum bestimmten („der“) Substantiv. Typisch deutsch: Eine solche Verzicktheit können nur wir uns leisten. Ein Däne bleibt Däne, auch wenn es „der Däne“ heißt, und ein Franzose bleibt Franzose, auch wenn man von ihm als „der Franzose“ spricht. Aber der Deutsche beansprucht zwei Formen im Singular.
Das liegt daran, dass er im Unterschied zu den Herren aller anderen Länder aus einem Adjektiv entstanden ist. Nicht aus Erde wie Adam, nicht aus Lehm wie der Golem, und nicht aus Holz wie Pinocchio, sondern aus einem kleinen Eigenschaftswort. So wie ein Blinder der Blinde heißt, weil er blind ist, und ein Alter der Alte, weil er alt ist, so heißt ein Deutscher der Deutsche, weil er deutsch ist. Während andere Völker nach ihrem Land benannt sind, handelt es sich beim Deutschen um ein substantiviertes Adjektiv – das klingt fast nach einer Beleidigung. Der Deutsche befindet sich geografisch in Nachbarschaft zu Dänen, Polen, Niederländern und Tschechen, grammatisch aber befindet er sich in Gesellschaft von Untergebenen, Angestellten und Gefangenen, lauter Bezeichnungen, die ebenfalls aus Adjektiven hervorgegangen sind. Und substantivierte Adjektive scheinen nicht als vollwertige Hauptwörter zu gelten, jedenfalls werden sie wie Adjektive dekliniert. Daher der auffällige Wechsel von „-e“ zu „-er“.
Kein Wunder, dass es mit der Weltherrschaft der Deutschen nicht geklappt hat, wenn nicht mal unsere eigene Grammatik uns als „echte Hauptwörter“ anerkennt und uns stattdessen wie aufgepumpte Wie-Wörter behandelt. Wäre der Deutsche nicht aus einem Adjektiv hervorgegangen, sondern vom Namen seines Landes abgeleitet (so wie der Österreicher von Österreich und der Engländer von England), dann hießen wir heute womöglich „Deutschländer“ und wären lauter arme kleine Würstchen. Dann doch lieber ein Adjektiv.
Auch für die weibliche Form lässt sich eine Besonderheit feststellen: Während die Frauen anderer Länder einfach durch Anhängen der Silbe „-in“ geformt werden (Engländer + in = Engländerin, Spanier + in = Spanierin, Iraker + in = Irakerin), wird dem Deutschen zwecks Erschaffung einer Frau nichts angehängt, sondern abgeschnitten: ein Deutscher – r = eine Deutsche. Hier liefert die Grammatik einen Beweis für die Stammtischthese, dass keine Frau der Welt den deutschen Mann so viel kostet wie die eigene. Auch die weibliche Form geht auf ein Adjektiv zurück und wird daher wie ein Adjektiv dekliniert. So wie die Alte, die Dumme, die Schöne und die Biestige.
Im Plural wird es nicht besser. Was – mit bestimmtem Artikel – „für die Deutschen“ gilt, das gilt – unbestimmt – „für Deutsche“. Steht vor den Deutschen gar ein Pronomen oder ein Attribut, ist die Verwirrung komplett. Heißt es nun „wir Deutsche“ oder „wir Deutschen“? Besteht dieses Problem nur für „einige Deutsche“, oder besteht es für „alle Deutschen“? Nicht einmal Horst Köhler kann sicher sagen, ob er als Bundespräsident für uns Deutschen spricht oder für uns Deutsche.
Der Duden erklärt, dass zwei Formen nebeneinander existieren, eine starke („wir Deutsche“) und eine schwache („wir Deutschen“). Die starke sei allerdings auf dem Rückzug; die schwache Form setze sich mehr und mehr durch. Richtig sind nach wie vor beide, es bleibt also jedem selbst überlassen, welcher Form er den Vorzug gibt.
Das Sprühwerk an der Wand bleibt trotzdem falsch. Selbst wenn man „Scheiße“ in „Scheiß“ verwandelte, das defekte „sch“ reparierte und mittels Trompe-l’œil-Technik die Illusion von Zusammenschreibung erzeugte, so wäre da immer noch die störende Endung. Man müsste folglich entweder das „n“ übertünchen – oder aber ein „Ihr“ davorsetzen, dann würde es wieder richtig. Wahlweise auch ein „Wir“ – je nach Standpunkt des Betrachters. Ob aber „für uns Deutsche“ oder „für uns Deutschen“ besser klingt – ich vermag es nicht zu sagen. Das Klügste wird sein, ich beantrage die dänische Staatsbürgerschaft, denn mit denen (also Dänen) gibt es in grammatischer Hinsicht kein Vertun.
Was sind wir Deutschen nur für Deutsche! | ||||
Nominativ | Genitiv | Dativ | Akkusativ | |
Singular, unbestimmt | ein Deutscher | eines Deutschen | mit einem Deutschen | für einen Deutschen |
Singular, bestimmt | der Deutsche | des Deutschen | mit dem Deutschen | für den Deutschen |
Plural, unbestimmt | Deutsche | Deutscher | mit Deutschen | für Deutsche |
Plural, bestimmt | die Deutschen | der Deutschen | mit den Deutschen | für die Deutschen |
Plural, mit Pronomen/ Attribut | alle Deutsche/alle Deutschen | aller Deutschen | mit allen Deutschen | für alle Deutsche/für alle Deutschen |
(c) Bastian Sick 2005
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 2“ erschienen.
Die Ausführungen zum Thema „wir Deutsche“ bzw. „wir Deutschen“ sind sehr hilfreich. Danke.
Neulich las ich an der Tür eines Krankenhauses folgenden
Hinweis:
„Bitte ohne anklopfen eintreten“.
Meines Erachtens muß es richtig lauten
„Bitte ohne anzuklopfen eintreten“ oder
„ohne Anklopfen eintreten“
Ich würde mich über einen Beitrag zum Thema Gebrauch des Infinitivs freuen.
Herzliche Grüße
W.Mischke