Als ich ein Schüler war, verbrachte ich die Sommerferien regelmäßig mit meinen Eltern und meinen beiden Schwestern am Lago Maggiore (Foto rechts: Sommer 1972). In einem Sommer hatte ich zwei Kinderbücher von Wolfdietrich Schnurre dabei, die ich mir zum Geburtstag gewünscht hatte: „Die Zwengel“ und „Der Meerschweinchendieb“. Ich war gerade acht geworden und befand mich auf einer unaufhaltsamen Entdeckungsreise durch die Kinderliteratur. Meine Großmutter hatte mich auf Schnurre aufmerksam gemacht, denn sie kannte seine Erzählungen für Erwachsene. Dass er auch über Meerschweinchen schrieb, machte ihn mir sofort sympathisch, zumal ich für diese putzigen Geschöpfe eine Schwäche hatte. Von Freunden erfuhren wir, dass der Autor jener Bücher rein zufällig selbst ein Ferienhäuschen am Lago Maggiore hatte, gar nicht weit von unserem Strand, auf dem Monte Sole. Meine Mutter ermutigte mich, hinaufzugehen und mir die Bücher signieren zu lassen.
Als ich die steile Straße zum Haus von Wolfdietrich Schnurre erklomm, pochte mein Herz vor Aufregung und Angst: Was, wenn ich nun ungelegen kam? Wenn er gar keine Kinder mochte? Wenn er einen großen bissigen Hund hatte? Auf halber Strecke dachte ich daran, umzukehren, aber was hätten meine Eltern dann von mir gedacht? Also nahm ich all meinen Mut zusammen und klingelte an der Tür des Schriftstellers. Ein großer freundlicher Mann mit einem breiten Schnurrbart öffnete, sah zu mir herab und rief überrascht: „Na, wer bist du denn?“ Ich brachte kein Wort heraus und streckte ihm nur die beiden Bücher entgegen. Er bat mich hinein, bot mir Saft und Kekse an, stellte mich seiner Frau Marina vor (die die Meerschweinchen-Geschichten illustriert hatte) und schrieb mir wundervolle Widmungen in beide Bücher: „Damit Bastian in einem Jahr wiederkommt“.
Das habe ich dann auch gemacht. Und beim zweiten Mal hatte ich auch keine Angst mehr. Im Gegenteil, ich konnte es kaum erwarten, Wolfdietrich Schnurre davon zu erzählen, dass ich inzwischen selbst angefangen hatte, Geschichten zu schreiben. Er fragte, ob er sie sehen dürfe, und ich gab sie ihm. Er nahm sie so behutsam in die Hand, als wären sie ein Schatz. Dann verriet er mir, dass er es sehr bedauere, seine eigenen frühen Versuche irgendwann allesamt verbrannt zu haben. Ich gelobte ihm, das mit den meinen nicht zu tun. Und so habe ich bis heute alles aufgehoben – einschließlich meines ersten Diktats.
Zehn Jahre später habe ich Wolfdietrich Schnurre noch einmal wiedergesehen. Diesmal nicht in Italien, sondern in Norddeutschland. Meine Großmutter hatte aus der Zeitung erfahren, dass Schnurre eine Lesung in Plön halten würde, und hatte mich eingeladen, mit ihr dort hinzufahren. Ich war inzwischen ein junger Mann von fast 19 Jahren, der seinen Wehrdienst ableistete. Und Schnurre war mit seinen Romanen „Der Schattenfotograf“ (1978) und „Ein Unglücksfall“ (1981) in die erste Garde der deutschen Literatur aufgerückt. Ihn aus seinen Werken vorlesen zu hören, war für meine Großmutter und mich ein heiliger Genuss. Im Anschluss signierte er Bücher. Ich hatte die beiden Kinderbücher von damals dabei und sagte: „Guten Tag, Herr Schnurre, erinnern Sie sich noch an mich?“ Er erkannte seine Widmung und strahlte: „Der Bastian! Aber natürlich! Du bist seit damals um einiges gewachsen!“
1989 starb Wolfdietrich Schnurre im Alter von 68 Jahren. Doch in seinen zahlreichen Erzählungen, in denen sich Melancholie und Menschenliebe auf poetische Weise paaren, ist er für mich bis heute lebendig geblieben.
An unsere Begegnungen denke ich jedes Mal zurück, wenn ich einen kleinen Jungen vor mir stehen sehe, der mich mit großen Augen anblickt und mir wortlos eines meiner Bücher zum Signieren entgegenstreckt. Dann geht mir das Herz auf wie ein rot lackierter Fensterladen an einem sonnigen Morgen über dem Lago Maggiore.
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