Donnerstag, 18. April 2024

Fress oder sterbe!

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Befehl ist Befehl, das hat jeder irgendwann schon mal gehört. Doch längst nicht jeder Befehl ist richtig formuliert. Einige provozieren mit unsachgemäßer Grammatik Gehorsamsverweigerung. Ein Kapitel über den viel geschundenen Imperativ.

Nach dem Tod der alten Frau Schlötzer kam ihr Hündchen „Tuffy“ zu Werner und Annegret. Werner wollte ja schon immer einen Hund haben, allerdings keinen „Tuffy“, sondern eher einen „Hasso“ oder einen „Rocko“, aber man kann es sich im Leben eben nicht immer aussuchen. Nun steht Werner in der Küche und macht zwei Dosen auf, zunächst eine mit Hundefutter für Tuffy, dann eine mit Stärkungsbier für sich selbst, denn Dosenöffnen macht durstig. Er stellt Tuffy den Napf vor die Nase und sagt: „Da, dat is‘ für dich! Nu fress mal schön!“ Tuffy blickt sein neues Herrchen neugierig an, macht aber nicht die geringsten Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten. „Wat is‘ denn?“, knurrt Werner. „Haste keinen Appetit? Los, fress!“ Tuffy wedelt mit dem Schwanz, doch er rührt den Napf nicht an. „Anne, der Hund will nich‘ fressen!“, ruft Werner. „Vielleicht isser krank?“ Die Gerufene kommt herbeigeeilt, kniet sich zu Tuffy hinab, streichelt ihn und sagt: „Komm, Tuffy, friss!“ Und sofort steckt der Hund seine Schnauze in den Napf und beginnt mit großem Appetit zu fressen. „Komisch“, wundert sich Werner, „bei mir hat er sich nich‘ gerührt. Vielleicht hört er nur auf Frauen?“

Was Werner nicht weiß: Die alte Frau Schlötzer hat ihrem Tuffy nicht nur feine Hundemanieren beigebracht, sondern ihn auch in tadellosem Deutsch erzogen. Daher reagiert Tuffy nur auf den Befehl „Friss!“ und nicht auf die umgangssprachliche Form „Fress!“

So wie Tuffy geht es auch vielen Menschen. Besonders empfindsame Schüler stellen sich im Sportunterricht gerne mal taub, wenn ihnen beim Ballsport von einem frei stehenden Mitschüler zugerufen wird: „He, werf zu mir!“ Das Ignorieren der Aufforderung mag zwar unsportlich sein, aber nicht unverständlich.

Wer sich anmaßt, Befehle zu erteilen, sollte zunächst einmal die richtige Befehlsform beherrschen. Imperativ kommt von Imperium, nicht von Imperitia*. Und mit dem Wort „befehlen“ geht es selbst schon los: „Befehle mir, ich liebe es“, betteln mehrere Tausend sogenannter Lustsklaven und -sklavinnen im Internet. Über die Wirkung eines solchen Appells kann man streiten, nicht aber über seine Grammatik; denn „Befiehl!“ muss es heißen.

Und wer nun fragt, „Inwiefern betrifft mich das? Ich habe keinen Hund, der schlauer ist als ich, und zur Schule und zum Bund gehe ich schon lange nicht mehr“, der sei nur auf das Internet verwiesen und auf die vielen Gebrauchsanleitungen, die man im Laufe eines Lebens so studiert. Darin findet man nämlich immer wieder Sätze wie diesen: „Bitte lese diese Anleitung genau durch, bevor du die Software installierst.“

Oder wie diesen: „Nehme zunächst das Hinterrad aus dem Rahmen und löse den Schnellspanner.“ Der Urheber hat vermutlich zu viele Kochrezepte gelesen, die traditionell mit „Man nehme …“ beginnen. Ganz zu schweigen davon, dass man für gewöhnlich erst den Schnellspanner lösen muss, bevor man das Hinterrad herausnehmen kann. Der Imperativ der zweiten Person Singular von „nehmen“ lautet indes „Nimm“, das weiß jeder, der sich schon mal von der Werbung aufgefordert sah, gleich zwei Bonbons auf einmal zu nehmen.

Wie man sich „erfolgreich, richtig bewerben“ kann, das weiß angeblich eine Homepage mit dem Titel www.bewerbe-dich.de. Die Internetadresse www.bewirb-dich.de ist wundersamerweise noch zu haben:

Zwar ist es richtig, dass der Imperativ der zweiten Person Singular meistens regelmäßig gebildet wird, nämlich genauso wie der Indikativ der ersten Person Singular im Präsens, aber eben nicht immer. Es gibt eine Reihe von Ausnahmen, eine Handvoll unregelmäßiger Verben, bei denen die Befehlsform ihren Stammlaut verändert: Da wird das „e“ zum „i“, und an den Wortstamm kann dann auch kein -e mehr angehängt werden. Bruce-Willis-Fans wissen, dass es „Stirb langsam“ heißt, und nicht etwa „Sterbe langsam“.

Wenn Spielleiter Georg Uecker einer Akteurin der Comedy-Improvisationssendung „Schillerstraße“ die Anweisung gibt „Sprech Schwäbisch!“, möchte man ihm selbst einflüstern: „Sprich Hochdeutsch!“ Und wer bei einem Besuch im nachbarlichen Kleingarten auf des stolzen Besitzers Ausruf „Seh mal hier!“ anfängt, Petersilie oder Rasen auszusäen, der hat zumindest akustisch die richtige Konsequenz aus der grammatisch insuffizienten Sentenz gezogen.

„Reg dich nicht auf, ess erst mal was“, mag ein gut gemeinter Rat sein, grammatisch aber unausgereift. Richtig ist selbstverständlich „iss erst mal was“. Doch offenbar haben viel zu viele Mütter viel zu vielen Kindern viel zu oft den Befehl „Halt den Mund und ess jetzt!“ erteilt, denn die ess/iss-Verwirrung im deutschen Sprachraum ist beklemmend.

Im Internet ist sie sogar messbar, wenn man nämlich die Worte „mess mal“ in eine Suchmaschine eingibt. Dort stößt man auf unzählige Foren, in denen Tausende von Internetnutzern sich gegenseitig mit Rat und nützlichen Tipps für Probleme aller Art versorgen: Wie oft muss man ein Aquarium reinigen? Wie schließt man Zusatzgeräte an seinen Computer an? „Lass das Aqua mal in Ruhe einlaufen und mess mal die Entwicklung der Wasserwerte in den ersten sechs Wochen“, schreibt ein freundlicher Ratgeber. Ein anderer in einem anderen Forum empfiehlt: „Wenn sich nichts tut, mess mal mit einem Multimeter nach, ob die Kontakte in Ordnung sind.“

Helf gefälligst der Mutti beim Kistenschleppen!“, ruft der Papa vom Fernsehsessel aus, unfähig, sich selbst zu erheben, und leider auch unfähig, die korrekte Imperativform zu bilden. „Helf dir selbst, dann hilft dir Gott“, lautet ein oft gesagter Rat; „nehm nicht immer nur, sondern geb auch mal was!“, hat schon so mancher Mensch einem Mitmenschen ans Herz gelegt. Da denkt man im Stillen: Gib auf deinen Ausdruck Acht und hilf deiner Grammatik auf die Sprünge!

Wer sich mit Imperativen wie „Dresche!“, „Trete!“ „Schmelze!“ und „Treffe!“ zufrieden gibt, wird es im Leben nicht weit bringen. Anders derjenige, der sich an die weisen Worte hält: „Drisch das Korn! Tritt den Balg! Schmilz das Erz! Triff keine übereilten Entscheidungen!“ Denn seine Stadt wird im Wirtschaftssimulationsspiel zu Wohlstand und Blüte gelangen.

Den Vogel schießt die Sankt-Sebastianus-Schützengesellschaft aus Bad Bodendorf ab, denn die wirbt mit dem Aufruf: „Werde Mitglied, lerne schießen, treffe Freunde!“

 

 


 

Für alle Freunde von tabellarischen Übersichten sind nachstehend noch einmal (fast) alle unregelmäßigen Imperativformen in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet. Wem Tabellen eher Angst einflößen, dem sei zur Beruhigung gesagt: Erschrecke nicht! Sondern erschrick!

Unregelmäßige Befehlsformen
Infinitiv Imperativ 2. Person Singular
befehlen befiehl!
bergen birg!
brechen brich!
dreschen drisch!
empfehlen empfiehl!
erschrecken erschrick!
essen iss!
fressen friss!
geben gib!
helfen hilf!
lesen lies!
messen miss!
nehmen nimm!
quellen quill!
schelten schilt!
schmelzen schmilz!
sehen sieh!
stechen stich!
stehlen stiehl!
sterben stirb!
sprechen sprich!
treffen triff!
treten tritt!
vergessen vergiss!
werben wirb!
werfen wirf!

 

* imperium (lat.) = Befehl, Herrschaft, Kommando, Reich/ imperitia (lat.) = Unwissenheit, Unerfahrenheit

(c) Bastian Sick 2004


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 2“ erschienen.

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