Seit Einstein wissen wir, dass alles relativ ist. Durchs tägliche Zeitunglesen erfahren wir außerdem, dass so manches paradox ist. Eine erhellte Insel, die unbehelligt ist; ein gestorbener Mann, der nicht tot sein kann; Bahnen, die auf Gleisen rasen – die Nachrichtenwelt steckt voller Überraschungen. Und Unsinn.
Nach den USA und Kanada nun Italien! Stundenlang war der Stiefel* am Sonntag ohne Strom. Ausgerechnet! Wo es doch gerade erst geheißen hatte, in Europa könne so etwas nicht passieren, da unsere Kraftwerke klüger geschaltet seien als in Amerika. Aber darum geht es hier nicht. Die Agentur AFP meldete: „Ein Stromausfall hat am Sonntag ganz Italien für mehrere Stunden lahm gelegt. Gegen 3.00 Uhr morgens gingen plötzlich landesweit die Lichter aus.“ Amüsant ist der Nachsatz. Denn da heißt es: „Einzig die Insel Sardinien blieb unbehelligt.“
Begierig griff die „Süddeutsche Zeitung“ den Meldungstext auf, unterzog ihn einer gründlichen feuilletonistischen Bearbeitung und schrieb dann in ihrer Montagsausgabe: „Kurz nach drei Uhr morgens gingen im nachtschwärmenden Italien die Lichter aus. Von den Alpen bis zum Ätna – nur die Insel Sardinien blieb unbehelligt.“
Paradox, so eine scherzhafte Definition, ist, wenn ein Goethe-Denkmal durch die Bäume schillert. Paradox ist aber auch, wenn eine Insel bei Dunkelheit von ausbleibendem Licht unbehelligt bleibt. Die Feststellung enthält eine unfreiwillige Komik; denn aus „unbehelligt“ hört man „hell“ heraus, also das Gegenteil von „dunkel“. Zwar hat dieses „hell“ eine andere sprachgeschichtliche Wurzel als das tatsächliche „hell“, es geht auf das mittelhochdeutsche helligen zurück, welches zunächst „ermüden“, später dann „stören“, „belästigen“ bedeutete, doch wer weiß das schon? Jedes Wort sollte auf seine Tauglichkeit geprüft werden, ehe es in einen klingenden Zusammenhang gesetzt wird. Manche erzeugen nämlich ein Nebengeräusch.
Ein anderes Beispiel für einen Widersinn. Am Montag meldete SPIEGEL ONLINE: Der älteste Mann der Welt ist tot. Auch das klingt nach einem Paradoxon: Wenn er nämlich tot ist, kann er nicht mehr der älteste Mann der Welt sein. In der Sekunde seines Todes rückt automatisch der zweitälteste Mann der Welt zum ältesten auf. Es gibt somit immer einen ältesten Mann der Welt, und zwar solange es Männer gibt. Der älteste Mann der Welt kann sterben, doch er kann nicht tot sein. Wir haben es mit dem Phänomen der Untotbarkeit des ältesten Mannes der Welt zu tun. Ein logisches Dilemma.
Es ist genau wie mit den Königen in Frankreich. Wir alle kennen doch den berühmten Ruf „Der König ist tot! Es lebe der König!“ In dem Moment, da der alte König die Augen schließt, ist sein Thronfolger bereits der neue König. Selbst wenn der gerade in Italien ist und auf Grund eines Stromausfalls nichts mitbekommt. In Anlehnung daran hätte man den Artikel über das bedauernswerte Ableben des 114-jährigen Seidenraupenzüchters aus Japan vielleicht so überschreiben können: Der älteste Mann der Welt ist tot! Es lebe der älteste Mann der Welt!
Auch die Überschrift „Regionalbahn raste auf Abstellgleis“ („Bild.de“) enthält einen Widerspruch. Die Bahn kann nämlich nicht rasen, sie liegt meist flach auf dem Boden und bewegt sich nur innerhalb einer kalkulierten Dehnungsspanne. Was da raste, war ein Zug. Nun wird das Wort „Bahn“ im Volksmund zwar oft als Synonym für Zug verwendet, aber erzählen Sie das mal einem Eisenbahner oder, noch folgenreicher, einem Eisenbahn-Enthusiasten. Unter einem 20-Minuten-Vortrag kommen Sie da nicht weg. Vielleicht ist der Server von „Bild.de“ unter dem Proteststurm der Freunde der Eisenbahn zwischenzeitlich kollabiert. Vielleicht blieb er auch unbehelligt.
Wem diese Ausführungen zu haarspalterisch sind, dem empfehle ich, den Computer auszuschalten und einen gemütlichen Herbstspaziergang zu unternehmen. Sollten Sie dabei einen Zug sehen, können Sie rufen: „Nun brat mir einer einen Zwiebelfisch: Die Bahn kommt!“
(c) Bastian Sick 2003
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.