Sonntag, 20. Oktober 2024

Wenn man könnte, wie man wöllte

Der Konjunktiv ist tot? Das söllte man nicht denken! Mancher meint, man könnte auf ihn verzichten, aber wer dürfte dann noch etwas möchten? Nein, der Konjunktiv ist quicklebendig. Und ist seine Form nicht eindeutig, dann biegen wir sie so, wie wir sie bräuchten.

Felix, der elfjährige Sohn meiner Schulfreundin Alexandra, ist ein aufgeweckter und überaus wissbegieriger Junge. Wann immer ich zu Besuch bin, bombardiert er mich mit Fragen. Seiner Mutter ist dies manchmal schon peinlich. So auch diesmal. „Wenn du in der Schule besser aufgepasst hättest, dann bräuchtest du jetzt nicht fragen“, sagt sie. Felix grinst und erwidert: „Du meinst, dann brauchte ich nicht zu fragen.“ Seine Mutter schüttelt den Kopf: „Von mir aus ,zu fragen‘, aber es heißt ,du bräuchtest‘, das ist nämlich die Wunschform, du kleiner Naseweis!“ Felix lässt sich nicht beirren. „Der Konjunktiv von ,du brauchst‘ lautet ,du brauchtest‘, nicht ,du bräuchtest‘“, sagt er ruhig. „So ein Quatsch“, erwidert seine Mutter, „wer hat dir denn so was beigebracht?“ Sie schaut mich hilfesuchend an. Ich zucke die Schultern: „Ich war’s nicht! Aber es stimmt, was Felix sagt, er hat dir nichts Falsches erzählt.“ – „Oh mein Gott“, stöhnt sie, „habt ihr euch jetzt etwa gegen mich verbündet? Dann sage ich wohl besser nichts mehr ohne meinen Anwalt!“

Doch der Blick in den Grammatik-Duden gibt Felix recht: Der Konjunktiv I von „ich brauche“ lautet „ich brauche“, der Konjunktiv II lautet „ich brauchte“. Da die Konjunktiv-II-Formen von „brauchen“ aber keinen Unterschied zu den Vergangenheitsformen aufweisen, sind sie leicht zu verwechseln: Der Satz „Ich brauchte deine Hilfe“ kann in zwei Richtungen gedeutet werden: zum einen als Wunschform (Konjunktiv II) im Sinne von „Ich würde deine Hilfe benötigen“, zum anderen aber auch als Beschreibung der Vergangenheit im Sinne von „Ich habe deine Hilfe benötigt“. Aus diesem Grund hat sich neben der offiziellen Form ohne Umlaut („ich brauchte“) eine inoffizielle Form mit Umlaut eingebürgert: „ich bräuchte“. Denn der Umlaut signalisiert unmissverständlich, dass der Konjunktiv und nicht die Vergangenheitsform gemeint ist.

Auch wenn die umgelautete Form nicht der Standardgrammatik entspricht, so ist sie inzwischen so weit verbreitet, dass sie von den meisten für die einzig richtige gehalten wird – meine Schulfreundin Alexandra inbegriffen. Um ihr zu beweisen, dass „brauchen“ im Konjunktiv II eigentlich nicht umgelautet wird, ziehe ich den Vergleich zu den klangähnlichen Verben „rauchen“ und „tauchen“. Es heißt schließlich nicht: „Wenn die Tabaksteuer gesenkt würde, räuchten die Menschen wieder mehr.“ Und genauso wenig sagt man: „Wenn die Sichtverhältnisse besser wären, täuchte ich noch tiefer.“

Nun werden „tauchen“ und „rauchen“ nicht so oft in den Konjunktiv gesetzt wie das viel häufiger verwendete „brauchen“, und um eine Verwechslung mit der Vergangenheitsform zu vermeiden, kann man „tauchen“ und „rauchen“ im Konjunktiv mit „würde“ kombinieren, was heute ohnehin gängige Praxis ist: „Wenn die Tabaksteuer gesenkt werden würde, würden die Menschen wieder mehr rauchen“ und „Wenn die Sichtverhältnisse besser wären, würde ich noch tiefer tauchen.“

Das Beispiel mit dem Rauchen scheint Alexandra auf den Geschmack gebracht zu haben, denn unwillkürlich greift sie zur Zigarettenschachtel vor sich auf dem Tisch. Felix wirft ihr einen strafenden Blick zu: „Es wäre besser, du räuchtest nicht!“, sagt er schelmisch. Alexandra steckt die Zigarette an und erwidert gelassen: „Ich brauchte es vielleicht nicht zu tun, wenn ihr mir mit eurer Klugscheißerei nicht so an den Nerven zerrtet!“

Das Wort „brauchen“ ist übrigens vom Gebrauch her den Modalverben zuzurechnen, und gerade Modalverben werden sehr häufig in den Konjunktiv gesetzt. Ein jeder kennt Formulierungen wie „Das könnte klappen“, „Da müsste ich mal kurz nachschauen“, „Das dürfte kein Problem sein“. Sie sind überall dort zu hören, wo man um Höflichkeit bemüht ist, ganz besonders im Handel und bei Dienstleistungen. Während man sich bei gewöhnlichen Verben zur Bildung des Konjunktivs heute meistens mit der Umschreibung mit „würde“ behilft, kommen die Modalverben ohne „würde“ aus. So wird überall dort, wo Dienst am Kunden geleistet wird, ganz nebenbei auch noch Dienst am Konjunktiv geleistet.

Was wären wir zum Beispiel ohne die schöne Form „möchten“? Die ist uns so vertraut, dass manch einer sie gar für ein eigenes Verb hält.

Sie: „Ich möchte endlich einmal in Ruhe telefonieren können!“

Er (gereizt): „Du hast überhaupt nichts zu möchten!“

Tatsächlich handelt es sich bei „möchten“ um nichts anderes als den Konjunktiv II von „mögen“. Wer sich nicht im Indikativ verabschieden mag, der möge sich im Konjunktiv II verabschieden und sagen: „Ich möchte mich verabschieden.“ Im Internet kann man dessen ungeachtet eine Konjugationstabelle aufrufen, in der das Verb „möchten“ in allen Zeiten durchgebildet wird: Vom Präsens (wir möchten) über die Vergangenheit (wir möchteten) bis hin zu Plusquamperfekt (wir hatten gemöchtet) und Futur II (wir werden gemöchtet haben). Besonders hübsch wird es, wenn „möchten“ dann noch zusätzlich in den Konjunktiv gesetzt wird: „Du habest gemöchtet“. Tja, das hätte wohl so mancher gern gemöchtet, wenn er nur gedürft hätte! Jedenfalls kann man nicht behaupten, dass der Konjunktiv nicht gemocht würde. Oder gemöchtet sei.

Nicht immer aber ist den Modalverben der Konjunktiv so deutlich anzusehen wie bei „müsste“, „könnte“ und „dürfte“. Bei „brauchte“ ist die Sache schon nicht mehr so eindeutig, bei „sollte“ und „wollte“ auch nicht. Die Zeile „Ich wollt, ich wär ein Huhn“ würde zwar niemand als Wunsch in der Vergangenheit interpretieren (im Sinne von „Ich wäre seinerzeit gern ein Huhn gewesen“), aber auf den ersten Blick ist „wollte“ und „sollte“ nicht anzusehen, ob es sich um Vergangenheits- oder Wunschformen handelt. Die Formen „söllte“ und „wöllte“ existieren jedenfalls nicht, daher wird dem konjunktivischen „sollen“ oft ein „besser“ zur Seite gestellt: „Sie sollten besser nach Hause gehen.“ Damit ist klar, dass es sich um eine Empfehlung handelt, und nicht um die Feststellung, dass Sie gestern nach Hause gehen sollten, heute aber gern noch ein bisschen länger dableiben können.

Die Modalverben „wollen“ und „sollen“ sind noch in einer weiteren Hinsicht interessant. Sie drücken nämlich nicht nur Willen („Ich will alles, und zwar sofort!“) und Gebot („Du sollst die Klappe halten!“) aus, sondern auch Mutmaßung und Behauptung: „Er soll schon wieder getrunken haben!“; „Der Angeklagte will die Tat nicht begangen haben.“ In dieser Form sind „wollen“ und „sollen“ häufig in den Nachrichten anzutreffen. Doch dabei kann es gelegentlich zu Missverständnissen kommen. Die Überschrift „Sri Lankas Soldaten sollen Kinder entführen“, wie sie im Schweizer „Tages-Anzeiger“ zu lesen war, kann misslicherweise als Aufforderung gedeutet werden. Als hätten die Sri Lanker nicht schon Sorgen genug, mischen sich jetzt auch noch westliche Tageszeitungen ein und rufen die Soldaten zur Kindesentführung auf! Ist die Welt noch zu retten? Man söllte es nicht glauben!

(c) Bastian Sick 2007


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.

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