Wer viel reist, der kann was erleben. Er bekommt viel Interessantes zu sehen – und viel Seltsames zu hören. Vor allem, wenn er mit dem Zug fährt. Lautsprecherdurchsagen der Bahn geben den Reisenden immer wieder neue Rätsel auf.
Schon in Köln hatte es geheißen: „Der ICE 611 von Dortmund nach München über Frankfurt, Mannheim, Stuttgart, trifft in der Ankunft voraussichtlich fünf Minuten später ein.“ Eine faszinierende Formulierung, dieses „trifft in der Ankunft ein“. Man findet sie zwar in keinem Wörterbuch, aber ich beschließe,sie trotzdem in meinen aktiven Wortschatz aufzunehmen. Wenn ich das nächste Mal gefragt werde, wann mit meinem Erscheinen zum Essen zu rechnen sei, so werde ich erwidern: „Ich schätze mal, ich werde pünktlich in der Ankunft eintreffen!“
Weitere zehn Minuten später trifft der Zug dann tatsächlich ein: „Auf Gleis drei erhält jetzt Einfahrt der verspätete ICE 611 nach München, die Ankunft war 13:24 Uhr.“ Auchdiese Formulierung hat es in sich. Man kann sagen: Die Ankunft war lang ersehnt, oder: Sie war von Tumulten begleitet – aber sie „war 13:24 Uhr“? Gemeint ist freilich die geplante Ankunftszeit. Aber Verkürzungen gehören zum Sprachalltag, das gilt auch für Lautsprecherdurchsagen. Jeder kennt Ankündigungen im folgenden Stil:„Nächster Halt: Hähnlein-Alsbach. Bitte in Fahrtrichtung links aussteigen!“ Und manch einer hat sich vielleicht schon die Frage gestellt, warum er aufgefordert wird, in Hähnlein-Alsbach auszusteigen.
„Achtung! Ein Hinweis für die Reisenden auf Bahnsteig 4: Der Regionalexpress nach Wattenscheid, planmäßige Abfahrt 14:29 Uhr, fährt heute außerplanmäßig aus Gleis 5!“Auch über diese Aussage haben sich schon viele Reisende gewundert. Autos können aus der Stadt fahren, Menschen können aus der Haut fahren – und Züge offenbar aus dem Gleis. Mir wäre es lieber, sie blieben auf dem Gleis. Ein Bahnexperte könnte nun gewiss erklären, dass der Zug das Gleis Nummer 5 tatsächlich verlässt, wenn er aufdie Hauptstrecke fährt, und trotzdem hat das Aus-dem-Gleis-Fahren einen sonderbaren Nebenklang. Es klingt nach einer sprachlichen Entgleisung. Außerdem sind die Ansager bei der Bahn nicht konsequent: Wenn ein Zug bei der Abfahrt aus dem Gleis fährt, müsste er bei der Ankunft entsprechend in das Gleis fahren. Trotzdem habe ich bis heute noch keine Durchsage gehört, in der es geheißen hätte: „Ins Gleis 4 erhält jetzt Einfahrt der Eurocity 412 aus Wien.“ Stattdessen hörte ich erst kürzlich auf der Fahrt nach Berlin die folgende Ansage: „Wir erreichen Berlin Hauptbahnhof um 20.11 Uhr am Gleis 5.“ Mein Gott! Nicht auf dem Gleis, sondern am Gleis – dort wo in diesem Moment lauter ahnungslose Menschen stehen und warten! Der Zug wird sie alle überfahren! Wenn nicht einmal mehr den Bahnmitarbeitern der Unterschied zwischen auf dem Gleis und am Gleis, also zwischen Bahnschienen und Bahnsteig klar ist, wie soll man sich da noch sicher fühlen?
Was ich auch immer wieder höre, ist Folgendes: „Aus diesem Zug bitte alle aussteigen! Dieser Zug endet hier!“ Für mich beginnt ein Zug vorne mit der Lok und endet hinten mit dem letzten Waggon. Was da im Bahnhof endet, ist die Zugfahrt. Aber vielleicht sehe ich das zu eng. Andererseits – würde ein Busfahrer sagen: „Dieser Bus endet hier“, wenn er die Busfahrt meint? Und welche Mutter, die ihre Kinder morgens zur Schule fährt, würde sagen: „So, meine Kleinen, da wären wir! Raus mit euch! Dieses Auto endet hier!“? Ganz betroffen macht mich auch der Hinweis: „Dieser Zug endet hier und wird ausgesetzt!“ Welch ein trauriges Schicksal: Von allen verlassen und ausgesetzt – wie ein Hund auf einem Autobahnrastplatz! Ein weiteres seltsames Eisenbahner-Partizip lernte ich am Lübecker Hauptbahnhof kennen. Auf meine Frage, ob der leere Zug auf Gleis 5 der Zug nach Kiel sei, erhielt ich die Antwort: „Nein, bitte nicht einsteigen, dieser Zug wird abgeräumt.“ Es war aber weit und breit kein Kellner zu sehen.
Zwischen Frankfurt und Mannheim folgt die nächste Überraschung: „Unsere Weiterfahrt wird sich noch um wenige Minuten verzögern aufgrund einer Überholung.“ Du lieber Schreck, denke ich, jetzt muss der Zug auf offener Strecke gewartet werden? Was ist denn passiert? Sind die Bremsen defekt? Oder ist es wegen der Klimaanlage, die den Reisenden den Restsauerstoff absaugt? Der kurz darauf auf dem Nebengleis dahindonnernde Zug lässt mich erahnen, dass mit „Überholung“ nicht Wartung, sondern das Vorbeifahren gemeint war. Da sollte ich meine Sprachkenntnisse in Bahndeutsch dringend mal überholen, sonst werde ich irgendwann vom Irrsinn überholt und verstehe am Ende nicht einmal mehr Bahnhof!
Mitunter können Lautsprecherdurchsagen der Bahn ja auch ganz originell sein, so wie jene, die ich unlängst im Hamburger Hauptbahnhof hörte. Um das Gedränge vor dem Einstieg zu entspannen, sagte eine weibliche Stimme über Lautsprecher: „Bitte benutzen Sie auch die anderen Türen! Der Zug ist innen hohl!“
Die knackigste Ansage aber hörte ich einmal irgendwo kurz hinter Göttingen: „Meine Damen und Herren“, sagte der Zugführer, „soeben ist unsere ofenfrische Brezelverkäuferin zugestiegen!“ Na, dachte ich gleich, an der würde mancher Fahrgast sicherlich gern mal knuspern.
(c) Bastian Sick 2005
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.