Nicht nur die SPD hat es in Bayern schwer. Auch der Genitiv wird nicht ernst genommen. Freilich ist es das gute Recht eines jeden Volksstammes, sich außer seiner Regierung auch seine eigene Grammatik zu wählen. Bedenklich wird es erst, wenn „wegen dem“ Dialekt die Hochsprache verflacht. Ein Traktat zugunsten des zweiten Falles.
„Wegen dir“, sang die bayerische Sängerin Nicki 1986. Das Lied war damals ein großer Erfolg und erlangte Bekanntheit weit über die Grenzen Bayerns hinaus. Ein deutscher Schlager, der nicht auf Hochdeutsch getextet war. Die Bayern, das weiß man, haben’s net so mit dem Wes-Fall (Woos is des?), sie lieben den Dativ wie das Weißbier und die Blasmusik. Daher verzieh man der Sängerin auch gerne den dritten Kasus im Zusammenhang mit dem Wörtchen „wegen“.
Als müsse er diesem kommerziellen Tiefschlag des Genitivs etwas entgegenhalten, brachte im selben Jahr der Österreicher Udo Jürgens eine Platte mit ähnlich klingendem Titel heraus: „Deinetwegen“ hieß das Album, und es wurde ein großer Erfolg weit über die Grenzen Österreichs hinaus. Zum Glück: So wurden die Radiohörer im deutschsprachigen Raum daran erinnert, dass man in Bayern „wegen dir“ sagen kann, dass die richtige Form aber „deinetwegen“ lautet. Denn was Udo Jürgens singt, ist immer bestes Hochdeutsch. Ein Jahr lang ging er mit „Deinetwegen“ auf Tournee, ein beispielloser Kreuzzug für die Rettung des Genitivs.
Die Wirkung indes blieb begrenzt; in den neunziger Jahren erschienen immer mehr Lieder und CDs, die „Wegen dir“ im Titel führten. Und hier war der dritte Fall nicht mehr mit Dialekt zu entschuldigen; denn die Sänger artikulierten sich in Hochdeutsch, beziehungsweise in etwas, das sie dafür hielten. Im Sängerkrieg der Schlagerbarden ist der Genitiv unterlegen. Muss man ihn unter Artenschutz stellen? Einen Verein zu seiner Rettung ins Leben rufen?
In deutschen Grammatikwerken ist nachzulesen, dass hinter „wegen“ in besonderen Fällen der Dativ stehen kann. Ein solcher besonderer Fall ist gegeben, wenn die Präposition vor einem „unbekleideten“ Nomen steht, also einem Hauptwort, das weder Artikel noch Attribut mit sich führt: „Wegen Umbau geschlossen“ – das ist erlaubt, es muss nicht „wegen Umbaus“ heißen. Ist das Hauptwort jedoch „bekleidet“, bleibt der Genitiv die bessere Wahl: „wegen des Umbaus“, „wegen kompletten Umbaus“. Dennoch hört man immer häufiger „wegen dem“ statt „wegen des“. Auch hinter „laut“ scheint sich der Dativ durchgesetzt zu haben. Immer seltener hört man „laut eines Berichts“, und immer häufiger dafür „laut einem Bericht“.
Führt der Genitiv nur noch verzweifelte Rückzugsgefechte? Ganz so gefährdet, wie es auf den ersten Blick aussieht, ist der zweite Fall in Wahrheit nicht. Er versteht es durchaus, sich zu wehren, und macht sogar Anstalten, fremdes Terrain zu erobern. Immer wieder tauchen Fälle auf, in denen hinter Präpositionen, die den Dativ erfordern, plötzlich ein Genitiv zu finden ist: „gemäß des Protokolls“, „entsprechend Ihrer Anweisungen“, „entgegen des guten Vorsatzes“, „nahe des Industriegebietes“*. Dies geht so weit, dass sich die Grammatikwerke bemüßigt fühlen, diese Präpositionen mit dem ausdrücklichen Hinweis zu versehen, dass ihnen NICHT der Genitiv folge, sondern der Dativ.
Im Falle der Präposition „trotz“ ist dem Genitiv die feindliche Übernahme gelungen: Standardsprachlich wird heute hinter „trotz“ der Wesfall verwendet. Dass dies nicht immer so war, beweisen Wörter wie „trotzdem“ und „trotz allem“. In Süddeutschland, Österreich und der Schweiz wird „trotz“ weiterhin mit dem Dativ verbunden. Nicki würde auf Bayerisch singen: „Trotz dem damischen Zwiebelfisch“, und Udo Jürgens auf Hochdeutsch kontern: „Trotz des nervigen Zwiebelfisch(e)s“.
PRÄPOSITIONEN, DIE GENITIV UND/ODER DATIV REGIEREN
(c) Bastian Sick 2003
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.