Dass die Orthografie nicht jedermanns Sache ist, ist bekannt. Noch weniger Freunde aber hat die Zeichensetzung. Die meisten Kommas werden nicht nach Regeln, sondern nach Gefühl gesetzt. Und Gefühle können trügen. Schlimmer als fehlende Kommas sind Kommas an Stellen, wo sie nicht hingehören. Und davon[,] gibt es leider sehr viele.
„Aus gegebenem Anlass, erinnere ich Sie erneut daran, dass das Aufrufen von Internet-Seiten mit pornografischen Inhalten während der Dienstzeiten nur im Notfall gestattet ist.“ So steht es in einer Rund-Mail zu lesen, die der Chef eines Hamburger Unternehmens kürzlich an seine Mitarbeiter verschickte. Und dies ist, allerdings, ein Notfall!
Denn da hat sich ein Vorgesetzter in verantwortungsvoller Mission völlig unprofessionell von seinen Gefühlen hinreißen lassen und ein Komma aus dem Bauch heraus gesetzt! Ganz gleich, wie der „Anlass“ ausgesehen haben mag, der ihn zu seiner E-Mail inspirierte, es gibt keinen Grund, ihn mittels eines Kommas vom Rest des Satzes abzutrennen. Die drei Wörter „Aus gegebenem Anlass“ bilden keinen Nebensatz, und es handelt sich auch nicht um eine nachgestellte Erläuterung oder einen Einschub. Tatsächlich ist „aus gegebenem Anlass“ eine adverbiale Bestimmung und gehört als solche zum Hauptsatz.
Adverbiale Bestimmungen nennt man diese vielen kleinen Zusatzinformationen im Satz, die etwas über Art und Weise, Ort, Zeitpunkt und Grund einer Handlung aussagen und mit „wie“, „wo“, „wann“ und „warum“ erfragt werden können. Da sie nicht nur aus einzelnen Wörtern, sondern auch aus ganzen Wortgruppen bestehen können, werden sie häufig mit Nebensätzen verwechselt. Man fühlt, dass hier vielleicht womöglich irgendwie ein Komma hingehören könnte – und schon ist es passiert. Das geschieht zum Beispiel besonders häufig bei Sätzen, die mit „nach“ beginnen:
„Nach endlosen Debatten und immer neuen Änderungsvorschlägen, gaben die Vermittler schließlich erschöpft auf und verließen die Sitzung.“ Zugegeben, der Satz ist nicht gerade kurz, aber das allein rechtfertigt nicht, ihn aufs Geratewohl irgendwo in der Mitte aufzuschlitzen. Das Komma vor „gaben“ ist falsch, daran ändern auch endlose Debatten und immer neue Vorschläge nichts.
Adverbiale Bestimmungen können sogar noch um einiges länger sein und werden trotzdem nicht mit einem Komma vom Satz abgetrennt: „Einen Tag nach dem Absturz einer ägyptischen Chartermaschine über dem Roten Meer, tauchen erste Hinweise auf schwere Sicherheitsmängel bei der Airline auf.“ Auf der gekräuselten Stirn des Grammatikfreundes tauchen indes ernste Zweifel an der Notwendigkeit des Satzzeichens vor „tauchen“ auf.
Gefühlte Kommas verunstalten Zeitungsartikel, Briefe, E-Mails und öffentliche Hinweise: „Außerhalb der Sommermonate, ist das Café nur bis 16 Uhr geöffnet“, steht auf einem Schild an einem Ausflugslokal am See. Es ist nicht schwer, sich auszumalen, wie so ein Schild entsteht. Der Erwin malt es und ruft dann seine Roswita „zum Gucken“. Roswita kommt und guckt, und weil sie meint, dass sie irgendetwas dazu sagen müsse, sagt sie: „Da fehlt noch was.“ – „Watt denn?“, fragt Erwin. „Weiß nich“, sagt Roswita, „aber irgendwas fehlt, das spür ich genau.“ – „Also, der Strich über Café kann’s nicht sein, der ist da, wie du siehst.“ – „Nee, das mein ich auch nich. Irgendwas anderes. Ein Komma oder so.“ – „Ein Komma? Wo denn?“ – „Da wo die Stimme beim Lesen hochgeht, da muss ein Komma hin.“
Erwin liest den Text des Schildes noch einmal laut vor, allerdings ohne die Stimme an irgendeiner Stelle anzuheben. „Du liest das falsch“, sagt Roswita. „Außerhalb der Sommermo-na-tee…“ Sie zieht das e in die Länge wie ein Gummiband und hebt die Stimme, als wollte sie singen. Dann macht sie eine bedeutungsvolle Pause und sieht Erwin an. „Hier, meinst du?“, fragt er. Roswita nickt. Also nimmt Erwin den Stift und malt ein Komma hinter die Sommermonate. Doch wir ahnen es längst: Mit ihrem Gefühl lag Roswita falsch. Zwar stimmt es, dass das Komma oft dort zu finden ist, wo die Satzmelodie ihren Höhepunkt erreicht. Grundsätzlich aber erfüllt das Komma keine musikalische Funktion, sondern eine syntaktische.
„Im Unterschied zu seinem Freund Konrad hat Paul keinen Klavierunterricht genossen.“ Manchem Leser mag es bei diesem Satz in den Fingern jucken, den einen oder anderen wird das spontane Bedürfnis überwältigen, zwischen „Konrad“ und „hat Paul“ ein Komma zu setzen. Doch das Kribbeln und die Überwältigung beruhen auf einer Täuschung. Denn auch hier handelt es sich um nichts weiter als um eine adverbiale Bestimmung.
Was eine solche von einem Nebensatz unterscheidet, ist das so genannte „Prädikat“, der grammatische Kern, das gebeugte Verb. Im Unterschied zur adverbialen Bestimmung zeichnet sich ein Nebensatz immer durch das „Prädikat: verbvoll“ aus:
„Nach Verlassen des Klassenzimmers …“ Kam bislang ein Prädikat? Nein! Und deshalb kommt hier auch kein Komma! „… brachen die Schüler in Gelächter aus.“
„Nachdem sie das Klassenzimmer verlassen hatten …“ Da! Das war ein Prädikat! Jetzt muss ein Komma her! „… , brachen die Schüler in Gelächter aus.“
Und gleich noch mal:
„Vor Anbruch des nächsten Tages […?…] wollten sie Kapstadt erreicht haben.“
„Bevor der nächste Tag anbrach, wollten sie Kapstadt erreicht haben.“
Einige meinen darin einen weiteren lästigen Anglizismus zu erkennen. Denn im Englischen wird die adverbiale Ergänzung gelegentlich durch ein Komma abgetrennt: „After the rain, the sun shines again.“ Das mag zwar richtig sein, doch inwieweit dieser englische Brauch Einfluss auf die deutsche Zeichensetzung hat, ist schwer zu beweisen. Sollte im Fall der gefühlten Kommas die englische Sprache als irreführendes Vorbild dienen, so hieße das ja, dass all diejenigen, die Probleme mit den deutschen Interpunktionsregeln haben, sich dafür umso besser mit den englischen auskennen. Demzufolge könnten ungefähr 95 Prozent der Deutschen besser Englisch als Deutsch.
Im Englischen gibt es andere Regeln, aber anscheinend ähnliche Probleme. Auch dort werden Kommas oft nach Gefühl gesetzt – mit zum Teil viel gravierenderen Auswirkungen als im Deutschen, denn der Beistrich hat im Englischen eine noch größere Bedeutung als bei uns. Die britische Autorin Lynne Truss veranschaulicht dies auf äußerst unterhaltsame Weise in ihrem Buch „Eats, Shoots & Leaves“, einer „kompromisslosen Einführung in die Interpunktion“. Der Titel spielt auf einen Witz an: Da kommt ein Panda in ein Café, bestellt ein Sandwich, frisst es auf, schießt zweimal in die Luft und geht. Der verwirrte Kellner erfährt beim Nachschlagen in einem (grammatisch fehlerhaften) Tierlexikon unter dem Stichwort Panda: „Eats, shoots and leaves.“ Gemeint war: „Frisst Schößlinge und Blätter“. Doch das falsche, sinnentstellende Komma hinter „eats“ führt dazu, dass sich die Aussage wie eine Aufzählung von Verben liest: „Frisst, schießt und geht.“
Für regelmäßige Verwirrung der Gefühle sorgen auch die Vergleichswörter „als“ und „wie“. Dabei gilt auch hier: Es geht nur dann ein Komma voraus, wenn ein Prädikat folgt. Es folgen zunächst vier nebensatzlose Beispiele mit Kommaverbot und anschließend vier beispielhafte Nebensätze mit Kommagebot:
· Mir geht’s so gut wie seit Jahren nicht mehr.
· Der Schaden war größer als zunächst angenommen.
· Er liebte sie mehr als je einen Menschen zuvor.
· In diesem Sommer hat es bei uns so viel geregnet wie sonst nirgends.
· Mir geht’s so gut, wie es mir seit Jahren nicht mehr ging.
· Der Schaden war größer, als zunächst angenommen worden war.
· Er liebte sie mehr, als er je zuvor einen Menschen geliebt hatte.
· In diesem Sommer hat es bei uns so viel geregnet, wie es sonst nirgends geregnet hat.
Wenn man dies einmal begriffen hat, braucht man sich bei der Interpunktion nicht mehr auf seine trügerischen Gefühle zu verlassen. Man kann eiskalt und berechnend seine Kommas setzen, wo sie erforderlich sind, und mit wissendem Lächeln auf sie verzichten, wo sie fehl am Platze sind. Und das gesparte Gefühl könnte man stattdessen in den Stil investieren. Der hat es oft nötiger als die Interpunktion.
(c) Bastian Sick 2004
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 2“ erschienen.