Mittwoch, 27. März 2024

Liebet einander!

Wenn man liest, die Kanzlerin und der US-Präsident haben sich als offen und kompromissbereit gelobt, war dann jeweils ein Eigenlob gemeint? Die deutsche Sprache ist sehr auf „sich“ bezogen. Darum hier ein Plädoyer für mehr „einander“.

Vor ein paar Jahren hat der Verein Deutsche Sprache eine sogenannte Wortpatenschaft ins Leben gerufen. Prominente sollten die Patenschaft für ein Wort aus dem Fundus der deutschen Sprache übernehmen, das vom Aussterben bedroht ist oder das ihnen aus irgendeinem anderen Grund besonders am Herzen liegt.

Ulrich Wickert wählte das Wort „Freiheit“. Zweifellos ist Freiheit ein kostbares, schützenswertes Gut und in vielen Ländern der Welt alles andere als selbstverständlich. Das deutsche Wort „Freiheit“ indes ist keinesfalls bedroht, das war es nicht einmal unter den Nazis oder dem SED-Regime. Aber es hat einen schönen Klang, und Ulrich Wickert freut sich natürlich, wenn man seinen Namen mit dem Wort „Freiheit“ in Verbindung bringt. Iris Berben entschied sich für das Wort „Silberhochzeit“, das ebenfalls einen schönen Klang hat und das möglicherweise eines Tages Seltenheitswert haben wird, wenn die Halbwertszeit der durchschnittlichen Ehe weiterhin sinkt.

Ich habe die Patenschaft für ein Wort übernommen, das weder für besondere menschliche Werte oder Grundrechte steht noch besonders witzig oder originell ist. Es ist nicht einmal ein Hauptwort, sondern ein Pronomen. Ein Fürwort, wie man auch auf Deutsch sagt. Vielleicht klingt dieses Fürwort nicht so schön wie „Silberhochzeit“, doch es hat mindestens genauso mit Beziehungen zu tun, zum Beispiel mit der Beziehung zwischen dir und mir, zwischen ihm und ihr, zwischen diesen und jenen. Ich habe mich für das Wort „einander“ entschieden. Warum das? Weil es tatsächlich zu den Wörtern gehört, die bedroht sind — vom Aussterben, vom Vergessen. Dort, wo „einander“ hingehört, sagen die meisten Menschen einfach „sich“. Das ist zugegebenermaßen auch kürzer und praktischer. Und in vielen Fällen sind „sich“ und „einander“ auch gleichbedeutend — aber eben nicht immer.

Wenn von Menschen die Rede ist, die sich hassen, wird nicht klar, ob damit nun unversöhnliche Streithähne oder bedauernswerte Menschen mit mangelndem Selbstwertgefühl gemeint sind. Bei Menschen, die einander hassen, ist die Verwechslung ausgeschlossen. Wenn zwei Freunde sich geschworen haben, sich nie mehr zu belügen, muss das nicht bedeuten, dass sie auch einander immer die Wahrheit sagen wollen. Es muss noch nicht einmal heißen, dass sie einander etwas geschworen haben. Es kann sich auch um eine stille Abmachung handeln, die jeder mit sich selbst getroffen hat.

Eine Leserin aus den Niederlanden wollte von mir wissen, wie es kommt, dass die Deutschen offensichtlich sich lieben, aber nur selten einander. Im Niederländischen wird nicht nur im Schriftlichen, sondern auch in der gesprochenen Sprache ganz deutlich zwischen „zich“ (= sich) und „elkaar“ (= einander) unterschieden. Selbst die Frage „Wann sehen wir uns wieder?“ stellt der Niederländer nicht mit „uns“, sondern mit „einander“: „Wanneer zien wij elkaar weer?“

Bisweilen kann das Reflexivpronomen „sich“ zu schwerwiegenden Missverständnissen führen, so wie im Bundestagswahlkampf des Jahres 2002. Nach dem Fernsehduell zwischen dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinem Herausforderer Edmund Stoiber wurde im Radio berichtet: „Beide Kandidaten halten sich für unfähig, Deutschland zu regieren.“

Diese vermeintliche Selbsteinschätzung führte zu einer tiefen Verunsicherung der Radiohörer: „Wen soll man da noch wählen“, fragten sie sich bang, „wenn selbst die beiden Spitzenkandidaten zugeben, dass sie unfähig sind?“

Die Verwirrung hätte vermieden werden können, wenn der Radiosprecher gesagt hätte: „Beide Kandidaten halten einander für unfähig.“ Er hätte auch beim „sich“ bleiben und ein „gegenseitig“ hinzufügen können. Aber wozu länger und umständlicher sprechen, wenn es auch kürzer geht — und schöner?

Das Wort „einander“ ist nämlich nicht nur präziser als „sich“, es wertet zugleich den Ausdruck des Sprechers auf, denn es hat einen schönen Klang, es hat Melodie und einen leichten, gefälligen Rhythmus. Ein Wort, das einem auf der Zunge zergeht wie Mousse au Chocolat. Probieren Sie es mal aus, und Sie werden feststellen, wie leicht man sich an „einander“ gewöhnen kann!


Fundstück aus: „Weserreport“ vom 4. April 2012

(c) Bastian Sick 2007

 


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.

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