Der Kirche und der Musik bin ich seit meiner frühesten Kindheit verbunden. Mit fünf Jahren – ich konnte noch nicht lesen, geschweige denn Noten lesen – durfte ich dem Kirchenchor meiner Heimatgemeinde Ratekau beitreten. Ich hielt ihm die Treue weit über den Stimmbruch hinaus bis zum Abitur. In diesen Jahren lernte und sang ich mit Begeisterung unzählige Kirchenlieder und Choräle. Eines meiner Lieblingslieder war „Großer Gott wir loben dich“. Das ging damals noch so:
Irgendwann, hinterrücks und ohne mir Bescheid zu geben, wurde die Melodie geändert. Plötzlich ging sie nun so:
Es hatte immer schon verschiedene Versionen des Liedes gegeben, und mit der Einführung eines neuen Evangelischen Gesangbuchs Mitte der neunziger Jahre setzte sich diese ökumenische Fassung durch.
Die Unterschiede mögen einem Laien minimal und unerheblich erscheinen, mir aber nicht. Ich konnte mich bis heute nicht an die andere Melodie gewöhnen. Mit dem Sich-nicht-gewöhnen-Können bin ich zum Glück kein Einzelfall. Schon über den Dichter Matthias Claudius wird berichtet, dass er sich bewusst zum Gottesdienst verspätete, um die Lieder aus dem neuen Gesangbuch, das der dänische König in Wandsbek eingeführt hatte, nicht mitsingen zu müssen. Es waren andere Texte und Melodien, als Claudius sie aus dem Plönischen Gesangbuch in seiner Jugendzeit in Reinfeld kannte.
„Großer Gott wir loben dich“ gehörte aber vermutlich noch gar nicht dazu, denn es konnte sich erst im 20. Jahrhundert als Kirchenlied etablieren. Es galt den Theologen nämlich lange als zu volksliedhaft und nicht für den frommen Gottesdienst geeignet. Melodien, vor allem aber auch die Texte von Kirchenliedern sind immer wieder verändert worden. Dabei spielte der vorherrschende Geschmack der jeweiligen Epoche eine maßgebliche Rolle. Im Pietismus – einer einflussreichen Reformbewegung des 17. Jahrhunderts – wurden viele Texte arg frömmelnd verkitscht, was man in der Aufklärung im 18. Jahrundert wieder auf ein verträgliches Maß zurückzustutzen versuchte.
Allerdings haben sich nicht alle Änderungen halten können. Der Text des Liedes „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ aus dem 16. Jahrhundert wurde von den Rationalisten der Aufklärung „bereinigt“:
Wie schön leuchtet der Morgenstern
Voll Gnad und Wahrheit vor dem Herrn,
die süße Wurzel Jesse.
Du Sohn Davids und Jakobs Stamm, mein König und mein Bräutigam,
hast mir mein Herz besessen.
Viel zu kitischig, fanden die Rationalisten der Aufklärung, viel zu unklar, denn was bitte, soll man sich unter der süßen Wurzel Jesse vorstellen? Und sollte man wirklich jedermann singen lassen, Jesus sei sein Bräutigam? Das stand im Widerspruch zur Vernunftslehre der Zeit. Also dichtete man das Lied einfach um:
Wie leuchtet uns der Morgenstern
Voll Gnad und Wahrheit vor dem Herrn
Der Sohn des ich mich tröste.
In seinem Lichte seh ich dich
O Vater, dass dein Sohn auch mich
Vom Leid und Tod erlöste.
So findet es sich in protestantischen Gesangbüchern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Kein schlechter Text, aber längst nicht so glanzvoll wie der alte. Darum strich man ihn im 20. Jahrhundert wieder raus und kehrte zur ursprünglichen Version zurück, mit der süßen Wurzel und dem Bräutigam, und so singt man sie noch heute.
Manche Änderungen schienen tatsächlich notwendig, weil der alte Wortlaut nicht mehr richtig verstanden wurde. So hieß es im Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ im 17. Jahrhundert noch:
Wer nur den lieben Gott lässt walten /
Und hoffet auf ihn allezeit /
Der wird Ihn wunderlich erhalten /
in aller Noht und Traurigkeit
„Wunderlich“ bedeutete damals offenbar noch „einem Wunder gleich“. Irgendwann aber nahm es eine andere Bedeutung an, nämlich „schräg“, „sonderbar“. Ein wunderlicher Mensch ist ein komischer Kauz. Einen „wunderlichen“ Gott wollte man nicht ernsthaft besingen. So änderte man den Text an dieser Stelle kurzerhand ab, und so steht er noch heute im Gesangbuch:
Wer nur den lieben Gott lässt walten /
Und hoffet auf ihn allezeit /
Den wird er wunderbar erhalten /
in aller Not und Traurigkeit
Die Zeiten ändern sich immer schneller, Moden und Gebräuche werden immer kurzlebiger, und heute kommt es vor, dass man schon nach gerade mal 20 Jahren an einem Text wieder Änderungen vornehmen muss, weil er unzeitgemäß geworden ist. Der von mir sehr geschätzte und verehrte Sänger Udo Jürgens hat mehrere seiner Lieder immer wieder überarbeitet, weil ihn die gesellschaftliche Entwicklung zu überholen drohte. In seinem berühmten Lied „Ein ehrenwertes Haus“ aus dem Jahr 1974 ging es um ein Paar, das in „wilder Ehe“ lebte und deshalb von den anderen Mietern zum Auszug gedrängt wurde. Eine knappe Generation später war die wilde Ehe so normal geworden, dass man sie nicht einmal mehr so nannte. Udo Jürgens ließ den Text überarbeiten. Aus der Zeile
Weil wir als Paar zusammen leben und noch immer ohne Trauschein sind …
wurde im Jahr 2000:
Weil wir hier Partys feiern und weil uns’re Freunde schräge Vögel sind …
Und in seinem Lied „Ich war noch niemals in New York“ hieß es 1982 noch:
Die Frau rief: Mann, wo bleibst du bloß? Dalli, Dalli geht gleich los!
Zehn Jahre später war „Dalli, Dalli“ Geschichte, und Udo ließ seinen Textdichter auch an diesem Lied eine Änderung vornehmen.
Und also sang er nun, etwas stolpernd zwar, dafür aber am Puls der Zeit:
Die Frau rief: He, wo bleibst du, Mann? „Wetten, dass?“ mit Gottschalk fängt gleich an!
Weitere 20 Jahre später ist auch „Wetten, dass?“ Geschichte. Zu einer weiteren Änderung des Textes ist aber nicht mehr gekommen, denn inzwischen hat Udo Jürgens die irdische Konzertbühne verlassen und singt jetzt mit den Engeln im Chor. Vielleicht wird er dort oben ja religiös – dazu ist es hier unten nicht gekommen – und schreibt eine neue Version von „Großer Gott wir loben dich“.
Warten wir’s ab. Eines ist sicher: Das nächste neue Gesangbuch kommt bestimmt.
Ein weiteres Beispiel ist der Paul-Gerhardt-Text „O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron‘, o Haupt sonst schön gezieret mit höchster Ehr‘ und Zier‘, jetzt aber hoch schimpfieret, gegrüßet seist du mir“, der seit der Aufklärung mehrere Veränderungen „erdulden“ musste; diese sind auch heute z.T. nicht bereinigt, wie die „ökumenische Fassung“ im Gotteslob zeigt. Besonders Vers 2 war Anstoß für Veränderungen: „Du edles Angesichte, davor sonst schrickt und scheut das große Weltgewichte: Wie bist du so bespeit, wie bist du so erbleichet! Wer hat dein Augenlicht, dem sonst kein Licht nicht gleichet, so schändlich zugericht’t“. Rein beispielsweise: Das badische evang. Gesangbuch von 1910 machte daraus:
„O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron‘, o Haupt sonst schön gekrönet mit höchster Ehr‘ und Zier‘, jetzt aber frech verhöhnet, gegrüßet seist du mir.
2. Du edles Angesichte, davor sonst alle Welt erschrickt und wird zunichte: Wie bist du so entstellt, wie bist du so erbleichet! Wer hat dein Augenlicht, dem sonst kein Licht mehr gleichet, so schändlich zugericht’t.“
Vielen Dank, lieber Herr Morstadt, für diese schöne Ergänzung.
Hallo Herr Sick
Zu Ihrem Beitrag zu den Liedtexten: Auf Jiddisch bedeutet das Wort ווונדערלעך („wunderlech“) heute noch wunderbar. Diese Sprache ist äußerst spannend im Vergleich zu deutschen Dialekten und zum Hochdeutschen. Ich komme aus der Schweiz, spreche nie und nimmer mit dem perfekten Akzent Deutsch, aber schriftlich bin ich relativ sattelfest, abgesehen von vielen Tippfehlern. Ich lese gerade mit Interesse und Vergnügen eines Ihrer Bücher. Ich würde gerne aus dem Band 3 der Genitiv-Abgesänge die Seiten 72 und 73 an eine bekannte und befreundete Organisation senden, bei welcher es genau um ein vergleichbares Problem geht. Da heißt es am Schluss der Fernsehpredigt jeweils: „Sie sahen eine Sendung des MISSIONSWERK KARLSRUHE“, Letzteres als Logo. Das schreit nach meinem Sprachempfinden förmlich nach einem Genitiv-S, was meinen Sie? Geben Sie mir die Erlaubnis, die entsprechenden Seiten einzuscannen und weiterzuleiten?
Ich war sowieso erstaunt, als ich 1996 nach Deutschland zog und feststellte, dass die Deutschen ihre Muttersprache gar nicht so gut beherrschen, wie wir Alemannen das erwarten würden. Wir Schweizer werden ja hierzulande sowieso gerne und oft wegen unserer Sprache belächelt, allenfalls findet man unser Schweizerdeutsch niedlich, (wo wir uns doch so sehr bemühen, Deutsch zu sprechen!). Mein Fazit ist, dass ich hier in BW nach 21 Jahren ein Kauderwelsch spreche, da das Schwäbische auch nicht gerade das Gelbe vom Ei bzw. eine vorbildliche Sprache ist. Die Schwaben, Elsässer und Schweizer sind ja allesamt alemannischen Ursprungs, deshalb verstehen wir unsere Idiome gegenseitig.
Wie dem auch sei – wenn ich Ihnen so schreibe, habe ich richtige Angst, einen Fehler zu machen. Wie tippt man eigentlich in einer Mail (das Mail ist übrigens in der Schweiz sächlich) einen Gedankenstrich? Muss ich diesen erst in ein Word-Dokument eingeben und dann kopieren?
Etwas muss man den vielen Dienstleistern, welche die Rechtschreibung nicht beherrschen, lassen: Ich bin ihnen (nicht Ihnen!) trotz allem dankbar, dass ich dort einen Kebap essen kann oder sie sich um die Dinge in meinem Haus kümmern, die ich nicht erledigen kann, wie den Einbau einer Heizung, Behebung eines Wasserschadens usw.
Dies müssen wir auch einmal bedenken!
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute!
Regi
P.S. Schade übrigens, dass Ihnen als ehemaligem Chorsänger beim neuesten Band der Teufel aufs Titelbild gerutscht ist – das wäre meiner Meinung nach nicht nötig gewesen.
Auch ich habe „Großer Gott wir loben dich“ in der Kirche immer mit großer Begeisterung gesungen, und zwar schon vor über 60 Jahren, und zwar gerade so, wie es oben als „plötzlich ging sie nun so“ dargestellt wird – dieses „plötzlich“ muss also schon etwas länger zurückliegen? Die ganz oben angegebene Variante von vor 244 Jahren habe ich dagegen noch nie gehört. Liegt es vielleicht daran, dass ich nicht an der Nordsee, sondern in Bayrisch-Schwaben aufgewachsen bin?
Lieber Herr Sick,
Ihre Ausführungen zu „Großer Gott, wie loben dich“ haben mich ein wenig neugierig gemacht, insbesondere, weil für mich die neue Fassung eigentlich die einzige ist, die ich bisher kannte. Und da ich sowohl evangelische als auch katholische Gesangbücher früherer Zeiten noch heute im Schrank stehen habe, habe ich gleich mal nachgeschlagen.
Tatsächlich findet man die alte Version, die Sie oben angegeben haben, noch im Evangelischen Kirchengesangbuch meiner Mutti von 1976, ebenso in dem noch viel älteren evangelischen Gesangbuch meiner Oma, während die neue Version bereits im katholischen Sursum Corda für das Erzbistum Paderborn aus den 60er Jahren zu finden ist. Leider konnte ich keine Information zur Auflage oder zum Datum des Drucks finden, außer dem Hinweis „IMPRIMATUR Paderbornae, d. i. m. Aprilis 1948.
So hat man wohl im Sinne der Ökumene eine Anpassung vorgenommen, die ich als solche eigentlich begrüße, egal, für wessen Version man sich letztendlich entschieden hat. Gemeinsame Lieder helfen uns, gemeinsam Gottesdienste zu feiern, ohne immer plötzlich über eine leicht abgewandelte Melodie zu stolpern.
Ich hoffe, Sie konnten sich inzwischen auch an die neue Fassung dieses schönen Liedes gewöhnen und singen es nun mit der gleichen Freude, wie früher.
Liebe Grüße
Anette K.