Sonntag, 20. Oktober 2024

Mal hat’s Sonne, mal hat’s Schnee

Ja, was hat es denn heute? Es hat doch wohl nicht etwa Regen? Nein, es hat Sonne, Gott sei Dank! Aber morgen soll es Wolken haben und Schnee! Bei den einen hat’s Glatteis, und bei den anderen kräuseln sich die Nackenhaare. Haben oder Nichthaben, das ist hier die Frage.

Es ist mal wieder einer dieser ungemütlichen Wintertage, wie ich sie so liebe: In der Nacht hatte es noch geschneit, am Morgen war der weiße Zauber schon wieder dahin,  die Straßen voller Schneematsch, der Verkehr ein ängstliches Schleichen. Ich sitze, noch nicht ganz aufgetaut, im Büro und warte auf Inspiration. Eigentlich wollte ich eine gewichtige Kolumne zum Thema Kongruenz schreiben, das hätte gut zu diesem Wetter gepasst, doch dann landet plötzlich eine E-Mail in meinem Postfach, die noch viel besser passt:

Lieber Herr Sick, mein Sohn (7) hat in einer Schulaufgabe folgenden Satz gebildet: „Es ist Glatteis wegen des Winterwetters.“ Gegen diesen Satz ist meines Erachtens nichts einzuwenden. Nun hat aber seine Lehrerin das „ist“ durchgestrichen und in Rot ein „hat“ darübergeschrieben und das Ganze als Fehler markiert. Ich bin jetzt etwas verunsichert, was denn richtig ist. Man ist sich eben in einem Land, das mit dem Slogan „Wir können alles außer Hochdeutsch“ wirbt, nie so ganz sicher.

Donner und Doria! Das konnte mich nicht kalt lassen, allen angestrengten Gedanken über das komplexe Thema Kongruenz zum Trotz. Denn hier stand die Ehre eines siebenjährigen Knaben auf dem Spiel, der unter sprachlich widrigen Umständen im Badischen aufwächst und offenbar dringend meines Beistandes bedarf.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Siebenjährige etwas kann, was den meisten erwachsenen Menschen südlich der Main-Donau-Linie äußerst exotisch erscheint: den Genitiv hinter „wegen“ bilden. Welch wohlklingende Wortwahl: wegen des Winterwetters! Und dagegen nun der schnöde Dativ: wegen dem Winterwetter. Was klingt besser? Letztlich ist alles eine Frage der Gewöhnung – und des persönliches Geschmacks. Erlaubt ist inzwischen beides. Aber darum geht es hier ja gar nicht.

Es geht um Haben oder Nichthaben, um die Frage aller Fragen: Kann „es“ etwas „haben“? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Nicht unter den Philosophen im Elfenbeinturm, sondern unter den Deutschsprechenden zwischen Flensburger Förde und den Dolomiten. Im Süden sagen viele: „es hat“. Da hat es Regen, oder es hat 20 Grad, dann hat‘s plötzlich wieder Nebel, und gelegentlich hat es dort auch Glatteis. In Baden-Württemberg ist dies gang und gäbe, in der Schweiz sogar Standard. (Nicht das Glatteis, sondern das „Es hat“.)

Dies ist wohlgemerkt die süddeutsche Art, das Wetter zu beschreiben. In den nördlicheren Breiten unseres Sprachgebietes ruft diese Art eher Erstaunen hervor: „Es hat Glatteis? Ja, habt ihr sie noch alle?“ Und schon gehen sie wieder aufeinander los, die Hanseaten und die Bayern, die Schwaben und die Rheinländer, die Wiener und die Berliner. So war es schon immer, und so wird es immer sein. Oder haben.

Uns interessiert an dieser Stelle natürlich vor allem, wie es in der Schulsprache aussieht. Hat die Lehrerin nun richtig gehandelt, indem sie den Satz anstrich und „ist“ in „hat“ verwandelte? Die Antwort lautet: ja und nein! Obwohl der siebenjährige Schüler in einer Region lebt, in der die Formulierung „Es hat Glatteis“ glatt durchgehen würde, hat er sich für eine andere Konstruktion entschieden. Aus irgendeinem Grunde kam ihm „es hat“ falsch vor, und so schrieb er lieber „es ist“, was verständlich ist, zumal die Hilfsverben „sein“ und „haben“ häufig in Rivalität zueinander stehen. Man denke nur an Beispiele wie: „Der Schrank hat dort gestanden“ (Hochdeutsch) und „Der Schrank ist dort gestanden“ (Süddeutsch). Oder an das französische „il y a“ (wörtlich: es dort hat) und das englische „there is“ (wörtlich: da ist). Vielleicht hat der Schüler auch an die Jahreszeiten gedacht; denn Sätze wie „Es ist Frühling“ und „Es war Sommer“ sind schließlich richtig.

Eine Formulierung nach dem Muster „Es ist Glatteis“ oder „Es ist Nebel“ sieht die Hochsprache jedoch nicht vor. (Außer als Antwort auf die Frage: „Was ist es?“) Entweder drückt man die Wetterlage durch ein Verb aus (es regnet, es schneit, es weht, es gießt, es friert, es scheint die Sonne, es stürmt) oder mithilfe eines Adjektivs (es ist regnerisch, es ist glatt, es ist neblig, es ist bewölkt, es ist windig, es ist sonnig, es ist stürmisch). In gehobener Sprache wird auch gern „es herrscht“ verwendet: „Es herrscht ein böiger Wind aus Südwest.“ Im Falle der Glatteis-Formulierung des Schülers hatte die Lehrerin zwar Recht, das Hilfsverb „ist“ anzustreichen, allerdings begab auch sie sich anschließend aufs Glatteis, indem sie stattdessen „hat“ empfahl. „Es ist glatt wegen des Winterwetters“ oder „Es herrscht Glatteis wegen des Winterwetters“ wären bessere Empfehlungen gewesen.

Im Süddeutschen hat man‘s mit dem „haben“ aber nicht allein, wenn es ums Wetter geht. „Es hat“ wird generell anstelle des standardsprachlichen „Es gibt“ verwendet: „In der Schweiz hat es hohe Berge“ (statt: In der Schweiz gibt es hohe Berge), „In meiner Familie hat es keine Zauberer“ (statt: In meiner Familie gibt es nur Muggel). Wer kennt noch das schöne deutsche Chanson „Wunder gibt es immer wieder“, mit dem Katja Ebstein 1970 beim Grand Prix in Amsterdam den dritten Platz errang? Ob sie sich beim deutschen Vorentscheid hätte durchsetzen können, wenn das Lied den Titel getragen hätte: „Wunder hat es immer wieder“? Wer weiß. Auf jeden Fall hätte es wohlmeinende Punkte aus der Schweiz gegeben.

Eines bleibt noch klarzustellen: Wenn man im Süden Deutschlands sagt: „Am Berg hat‘s Schnee“, dann ist das nicht falsches Deutsch, sondern ein himmlischer Hinweis, der das Herz eines jeden Skifahrers höher schlagen lässt. Nichts liegt mir ferner, als Dialekte zu verdammen. Ich will nur Licht in das Dunkel bringen, durch das wir gelegentlich tasten, wenn wir auf der Suche nach einem gemeinsamen sprachlichen Standard sind.

Die Kolumne über Kongruenz bekommen Sie beim nächsten Mal zu lesen, sofern es bis dahin nicht wieder einen dramatischen Zwischenfall wie diesen hat.

(c) Bastian Sick 2006


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.

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9 Kommentare

  1. Volker Morstadt

    Lieber Herr Sick

    schon ca. 8 Jahre alt und immer noch aktuell. Man kann auch noch in Ergänzung darauf hinweisen, dass die Regel „Bewegungsverben werden mit sein, alle anderen mit haben verbunden“ Ausnahmen hat – wie all Sprachregeln übrigens. Nehmen Sie fahren, da geht beides – nur ändert sich dann der Sinn des Gesagten: Ich habe Auto/Fahrrad/Straßenbahn/Zug gefahren vs. ich bin … Sinn: ich bin Chaffeur gewesen vs. ich bin (Mit)fahrer gewesen.

    MfG Ihr V. Morstadt

  2. Hallo Herr Sick,

    empfindlich reagieren seit einigen Jahren meine Nackenhaare auf die Zunahme des „es“, in Verbindung mit Bedürfnissen aller Art, z.B. wenn „es“ etwas braucht, statt dass man für dieses oder jenes, zunächst diese oder jene Bedürfnisse erfüllen sollte, während gleichzeitig die Bedürfnisse zu erlaubten Bedarfen amputiert wurden.

    Über die Hintergründe dieser Entwicklung, bedarf es meiner Meinung nach einer ausführlichen Erklärung.
    Oder braucht es eine ausführliche Erklärung?

    Herzliche Grüße,
    wn

  3. Ingrid Haselberger

    Sie bezeichnen „Es HAT Glatteis“ als „süddeutsch“ – das überrascht mich.
    Ich bin Wienerin – und mir ist Glatteis, das es irgendwo „hat“, ganz fremd; ich würde das eher im Norden vermuten, oder aber in der Schweiz.
    Anders ist es mit dem „Sinn“: den „hat“ etwas bei uns, während es ihn weiter im Norden erst „machen“ muss…

    • Hallo Frau Haselberger,

      nein, „Sinn machen“ ist im Deutschen schlichtweg falsch – das ist eine Satzkonstruktion, die aus dem Englischen übernommen wurde („it makes sense“).

      Aber ich stimme Ihnen zu – ich wohne in Südhessen, und hier kennt man „es hat Regen“ auch nicht. Bei uns sagt man auch nicht „ich bin gestanden“ – das kenn ich nur von den Bayern. Möglicherweise auch bei den Schwaben, aber selbst in Baden hab ich diese Perfektbildung noch nie gehört. Mir rollen sich da auch immer die Fußnägel hoch, wenn die elementare deutsche Grammatikregel „nur Verben der Bewegung mit ’sein‘ in den Perfekt hieven“ verletzt wird.

      Herzliche Grüße

      Natalie

  4. Lieber Herr Sick,

    das mit dem Süd- und dem Hochdeutschen ist meist komplizierter als man denkt. Ich bin in Mannheim und im Odenwald aufgewachsen, meine Eltern waren beide lupenreine Mannheimer Dialektsprecher. Die Ausdrucksweise „es hat“ habe ich, obgleich sicher Süddeutscher, erstmals während meines Studiums und zu Beginn meines Berufslebens gehört, von Menschen, die ein ganzes Stück (?) weiter aus dem Süden oder Südosten kamen.

    Ein zweites: Der Stolz auf die „Leistung“, kein Hochdeutsch zu können, ist zwar ein Werbegag von Baden-Württemberg, kann sich aber eigentlich nur (und dies zurecht!) auf den schwäbischen Teil des Landes beziehen, welcher von den Stuttgartern regelmäßig für das ganze Bundesland genommen wird. Die Badener sind nicht stärker dialektverhaftet als die Frankfurter oder die Lübecker (hoffe ich wenigstens).

    Herzliche Grüße,
    Peter Preus

  5. Mal ganz abgesehen von den Dialekten rollen sich mir bei beiden Formulierungen die Zehennägel hoch. Dann müsste ja auch diskutiert werden, ob es „es ist Regen/Sonne/Nebel …“ oder „es hat Regen/Sonne/Nebel …“ heißt, nicht wahr?
    Meinem Sprachempfinden nach fordert das „ist“ hier ein Adjektiv, folglich hieße es, wenn es das denn gäbe: „Es ist glatteisig“. Das „hat“ lasse ich landestypisch mal außen vor …
    Allerdings fällt mir bei aller Grübelei auch nichts umgangssprachliches für „herrscht“ ein … Das ist/hat schon Problem.

  6. Sehr geehrter Herr Sick,

    Ihr Beitrag war wie immer sehr lehrreich, auch wenn der Grund Ihrer Erklärung für den 7-jährigen Jungen nur von regionaler Bedeutung war.

    Freundliche Grüße aus Dresden

  7. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die in Teilen der Eifel und des Saarlands gebräuchliche Redewendung „Ich han kalt (warm / heiß …)“, so oder in ähnlichen Dialektformen, statt „Mir ist kalt…“ Ob das an der Nähe zu Frankreich liegt („J’ai froid …“)?
    Eine beliebte umgangssprachliche Besonderheit hat’s auch hier im Rhein-Main-Gebiet (oder gibt’s das auch noch andernorts?): Das gedoppelte „haben“ im Perfekt oder Plusquamperfekt: „Ei, ich hab’s dir doch gesagt gehabt!“ oder „Ich hatt‘ des nit richtig gesehe gehabt.“
    Hat’s noch Fragen? Mit freundlichen Grüßen, Bernd Abstein

  8. Seit 40 Jahren in der schönen Schweiz, habe ich mich an diese Ausdrucksweise gewöhnt… Höhepunkt: „Äs hett, solang’s hett!“ (Wenn alles weg ist, gibt’s nichts mehr!)

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