Sonntag, 20. Oktober 2024

Muss eine Reihe von Ministern müssen?

Wer hat mehr Macht, wenn eine Menge Politiker im Spiel sind: die Politiker oder die Menge? Wer wird sich durchsetzen, wenn es um die Mehrheit der Arbeiter geht: die Arbeiter oder die Mehrheit? Hier wird eine Reihe Fragen gestellt. Und es werden eine Menge Antworten gesucht.

Manchmal ist es ein großer Haufen Fragen, manchmal nur eine kleine Zahl von Ungereimtheiten, die uns in die Bredouille bringt. Oder bringen. Schon stecken wir wieder drin und fragen uns: Was ist denn nun richtig? Wer oder was bestimmt bei einer „Reihe von Ministern“, ob das Tätigkeitswort in der Einzahl oder in der Mehrzahl steht: die Minister oder die Reihe?

Anders, aber nicht unbedingt klarer ausgedrückt: Richtet sich der Numerus des finiten Verbs nach dem Gezählten oder nach der Mengenangabe? „Mengenangaben“ sind zum Beispiel:

Anzahl, Batzen, Dutzend, Gruppe, Hälfte, Handvoll, Haufen, Herde, Masse, Mehrheit, Menge, Reihe, Schar, Unmenge, Unzahl, Vielzahl, Zahl

Das „Gezählte“ ist das, was hinter der Mengenangabe steht. Bei „einer Handvoll Schüler“ sind die Schüler das Gezählte und die Handvoll ist die Mengenangabe. (Früher kannte man neben der Handvoll auch noch das „Fellvoll“. Dabei handelte es sich allerdings eher um eine fragwürdige Erziehungsmethode als um eine Mengenangabe. Auch wenn manche Kinder zweifellos eine Menge Fellvoll bekommen haben.)

Bleiben wir bei der Handvoll Schüler. Will die lernen oder wollen die nur spielen?


Für Grammatik-Puristen steht außer Frage, dass sich das Verb nach der Mengenangabe zu richten hat. Das Gezählte sei der Mengenangabe schließlich untergeordnet. Eine Bauernregel bestätigt dies: Viele Blätter machen einen Haufen, aber ein Haufen Blätter macht noch keinen Herbst.

Ein Ratgeber aus dem Hause Duden meint feststellen zu können, dass sich meistens nach der Mengenangabe gerichtet werde: Stehe die Mengenangabe in der Einzahl, werde meistens auch das Verb in die Einzahl gesetzt, auch wenn das Gezählte in der Mehrzahl stehe. Demnach heiße es üblicherweise:

Eine Reihe von Ministern musste zurücktreten.

Eine Handvoll Schüler kommt immer zu spät.

Eine Vielzahl neuer Anmeldungen war hinzugekommen.

„Meistens“ und „üblicherweise“ heißt aber nicht „immer“ und „ausnahmslos“, und nicht nur der Duden räumt ein, dass es ebenso möglich (und zulässig) sei, das Verb nach dem Gezählten zu bilden:

Eine Reihe von Ministern mussten zurücktreten.

Eine Handvoll Schüler kommen immer zu spät.

Eine Vielzahl neuer Anmeldungen waren hinzugekommen.

Die Regeln sind in dieser Frage nicht eindeutig und lassen den Anwendern einigen Ermessensspielraum: Wenn man dem Gezählten eine größere Bedeutung beimisst als der Mengenangabe, kann man sich dafür entscheiden, das Verb nach dem Gezählten zu bilden.

Im Folgenden ist das Verb jeweils in einen Nebensatz gekleidet. Entscheiden Sie selbst, was in Ihren Ohren besser klingt:

Die Presse berichtete von einer Reihe von Ministern, die zurücktreten musste/mussten.

Der Lehrer beklagte sich über eine Handvoll Schüler, die immer zu spät kommt/kommen.

Die Schule verzeichnete eine Vielzahl neuer Anmeldungen, die während der Ferien hinzugekommen war/waren.

Bei einigen Mengenangaben bestehen keine Zweifel, dass sie über das Gezählte regieren und somit das Verb bestimmen. Dies ist bei allen Wörtern der Fall, die für eine Gruppe stehen, wie zum Beispiel „Herde“, „Horde“, „Rotte“, „Schar“ und „Schwarm“:

Eine Gruppe Gefangener hatte (nicht: hatten) sich unbemerkt abgesetzt.

Eine Herde Schafe stand (nicht: standen) auf den Gleisen.

Eine Schar Kinder lief (nicht: liefen) den Zirkuswagen hinterher.

Bei anderen Mengenangaben fällt das Gezählte stärker ins Gewicht:

„Er hat eine Masse Probleme, mit der er nicht fertig wird.“ Würden Sie diesen Satz so stehen lassen? Vermutlich käme Ihnen diese Form vertrauter vor: „Er hat eine Masse Probleme, mit denen er nicht fertig wird.“

Oder nehmen wir den Satz: „Dafür müssen eine Menge Bäume gefällt werden.“ Würde – von ein paar Waldschützern abgesehen – irgendjemand diese Aussage für falsch halten und stattdessen fordern „Dafür muss eine Menge Bäume gefällt werden“?

Bruchrechnung hat mich schon als Schüler ins Schwitzen gebracht. Das hat sich bis heute nicht geändert. So gerate ich jedes Mal ins Grübeln, wenn ich eine Überschrift lese wie: „Ein Drittel unserer Kinder ist zu dick.“ Ich frage mich dann, welches Drittel wohl gemeint ist: der Bauch? Brust und Arme? Oder Schenkel und Gesäß?

Tatsächlich aber kann sich das Verb hinter „ein Drittel“, „ein Viertel“ und der „Hälfte“ sowohl nach dem Bruch als auch nach dem Gebrochenen richten:

Ein Drittel unserer Kinder sind/ist zu dick.

Mehr als ein Viertel der Importe kommt/kommen aus China.

Die Hälfte der Arbeiter muss/müssen entlassen werden.

Stellen Sie sich vor, Sie leiten eine krisengeschüttelte Firma und müssen die Belegschaft um die Hälfte reduzieren. Würden Sie dem Betriebsrat lieber erklären, „die Hälfte der Arbeiter  muss entlassen werden“ oder „die Hälfte der Arbeiter müssen entlassen werden“?

Wenn Sie sich für die zweite Möglichkeit entscheiden, lassen Sie erkennen, dass Ihnen die Arbeiter wichtiger sind als die Mengenangabe. Manchmal wird Grammatik auch von Ethik bestimmt.

Im Zweifelsfall sollte man sich immer für die Klarheit entscheiden. Denn wichtiger als die Einhaltung irgendwelcher Regeln ist es, verständlich zu bleiben und Missverständnisse auszuschließen.

In einer Lokalzeitung las ich einmal folgenden Satz: „Im Neubaugebiet Ost steht noch immer eine ganze Reihe fertiger Reihenhäuser zum Verkauf“. Die Wahl der Verbform „steht“ machte mich stutzig, und ich fragte mich, ob der Redakteur sie bewusst gewählt hatte, weil er eine komplette Reihe von nebeneinanderstehenden Häusern meinte. Wenn er aber nicht unbedingt zusammenhängende, vielmehr über das gesamte Neubaugebiet verteilte Reihenhäuser meinte, so hätte er sich besser für „stehen“ entschieden.

Wenn Angela Merkel in ihrem Kabinett einmal Kahlschlag betreibt und wir aus der Zeitung erfahren: „Ein Drittel der Minister mussten ihren Hut nehmen“, könnte eine hitzige Diskussion darüber entbrennen, ob es nicht besser heißen sollte: „Ein Drittel der Minister musste seinen Hut nehmen“. Damit wäre immerhin klargestellt, dass es sich nicht um den Hut der Kanzlerin handelt. Zum Glück gibt es noch die Möglichkeit, die Minister einfach den Hut nehmen zu lassen, also irgendeinen, ganz neutral, völlig egal, Hauptsache Hut und weg.

Zu diesem Thema lässt/lassen sich noch eine Menge Gedanken zu Papier bringen, und selbst dann werden/wird immer noch ein Haufen Fragen unbeantwortet bleiben.

(c) Bastian Sick 2010

 


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 5“ erschienen.

 

 

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