Sonntag, 20. Oktober 2024

Vom Fegefeuer in die Hölle

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FOTO: BASTIAN SICK

Alte Straßen in alten Städten tragen oft sonderbare Namen. Nicht immer erklären sich diese Namen von selbst; oft muss man Nachforschungen anstellen, um hinter ihr Geheimnis zu kommen. Eines aber haben alle Namen alter Straßen in alten Städten gemeinsam: Sie erzählen Geschichte. Ein Stadtrundgang durch Lübeck.

Ich war ein Landei: In Lübeck kam ich zwar zur Welt, doch aufgewachsen bin ich in einem Dorf rund zehn Kilometer weiter nördlich, zwischen Bauernhöfen und Wiesen. Lübeck übte daher immer einen besonderen Reiz auf mich aus: eine große Stadt mit dicht stehenden Häusern, belebten Straßen und hell erleuchteten Geschäften, mit schmückenden Giebeln, mächtigen Türmen und Toren.

Wenn meine Großmutter mit dem Bus in die Stadt fuhr, durfte ich sie oft dabei begleiten. Für mich waren das Ausflüge in eine andere Welt: aufregend, abenteuerlich – und immer lehrreich. Meine Großmutter zeigte mir die Kirchen, das Stadttheater, die Museen, die Gänge und die Höfe; und auf meine vielen Fragen hatte sie fast immer eine Antwort parat. Da ich schon früh dem Zauber der Wörter erlegen war, faszinierten mich besonders die Lübecker Straßennamen. Bei uns auf dem Dorf gab es eine Hauptstraße, eine Poststraße und einen Westring; in Lübeck aber klangen die Straßennamen anders: manche geheimnisvoll, andere kurios, und alle erzählten sie Geschichten.

So gibt es eine Reihe von Straßen, die Grube heißen, wie die Beckergrube, die Fischergrube und die Engelsgrube. Als Dorfkind kannte ich Gruben nur in Verbindung mit Kompost oder Häschen und wunderte mich, dass in Lübeck auch Menschen in Gruben lebten. Meine Großmutter erklärte mir, dass die Lübecker Gruben eigentlich Gräben waren, durch die einst das Regenwasser (und noch so manches andere) in die Trave abfloss. Außerdem lernte ich, dass die Engelsgrube nichts mit Engeln zu tun hat, sondern mit England, da sie zu jenem Teil des Hafens führte, in dem die Schiffe nach England ablegten. Eigentlich ist sie also eine „Englische Grube“, aber Engelsgrube klingt schöner. Eine weitere Grube mit einem klangvollen Namen entdeckte ich hinter dem Heiligen-Geist-Hospital: die Große Gröpelgrube. Auch wenn ich heute weiß, dass Gröpel auf das niederdeutsche Wort „Groper“ zurückgeht, welches Töpfer bedeutet, so muss ich doch jedes Mal schmunzeln, wenn ich den Namen lese, denn für uns Kinder hieß sie immer die „Große Popelgrube“.

Die Gruben werden gekreuzt von lauter Querstraßen mit bildhaften Namen: Es gibt eine Lichte Querstraße und eine dazu passende Düstere Querstraße. Es gibt die Einhäuschen Querstraße, in der aber längst nicht mehr nur ein einzelnes Häuschen steht. Es gibt eine Siebente Querstraße, aber nach einer Sechsten oder Fünften Querstraße sucht man vergebens, was daran liegt, dass die „Sieben“ gar keine Zahl ist, sondern eine Abwandlung von „Sauen“; dort nämlich befanden sich einst Schweineställe. Außerdem gibt es eine Gerade Querstraße, was wie ein Widerspruch in sich erscheint, aber die Gerade trug ihren Namen in Unterscheidung zur Krummen Querstraße, die heute nicht mehr existiert.

Buchstäblich befeuert wurde meine kindliche Fantasie vom Namen einer Straße in der Nähe des Doms: „Fegefeuer“. Sie wurde so genannt, weil sie geradewegs zum „Paradies“ führt, der Vorhalle des Doms. Wer falsch abbog, konnte allerdings auch in der „Hölle“ landen. So nämlich heißt eine kleine Straße, die vom Fegefeuer abzweigt. Und dabei handelt es sich natürlich um eine Sackgasse.

Auf weltlicheres Geschehen verweisen Straßennamen wie „Schrangen“ (von „Schranken“, den Verkaufstresen der Schlachter), „Hüxterdamm“ („Hüxter“ war ein altes Wort für Krämer, im Plattdeutschen noch als „Höker“ zu finden) und „Schüsselbuden“, benannt nach den Marktständen für Haushaltswaren. Die wohlklingende Glockengießerstraße und die etwas derber klingende Fleischhauerstraße nehmen auf alte Berufe Bezug, ebenso die Wahmstraße, auch wenn man es ihrem heutigen Namen nicht mehr ansieht. „Wahm“ ist die Verkürzung des Wortes „Wagenmann“, die Wahmstraße war also die Straße der Fuhrleute. Ob die durch Thomas Mann und seine „Buddenbrooks“ so berühmt gewordene Mengstraße auf einen Familiennamen Mengo oder das niederdeutsche Wort für Händler, „menger“ oder „manger“, zurückgeht, ist nicht eindeutig geklärt, sicher ist nur, dass die Mengstraße nichts mit dem Wort Menge zu tun hat, auch wenn sie heute eine Menge Touristen anlockt. Welches Handwerk in der Schlumacherstraße ansässig war, gibt besondere Rätsel auf. Es waren keine Schuster, auch keine Schlauchmacher oder gar Schlaumeier. Die Schlumacher waren Weber. Sie fertigten Wolldecken an, wie sie aus dem französischen Ort Châlons bekannt waren. Die Châlonsweber hießen im Niederdeutschen Salunenmaker und wurden schließlich zu Schlumachern.

Nicht wenige Straßennamen sind durch Verballhornung entstanden, was gut zu Lübeck passt, denn Lübeck war die Heimat des Buchdruckers Johann Balhorn, auf den das Wort „verballhornen“ zurückgeht, das immer dann zum Einsatz kommt, wenn etwas verfälscht, umgedeutet oder verschlimmbessert wird. Balhorn hatte nämlich einst im Auftrag des Lübecker Rates eine hochdeutsche Fassung des lübischen Rechts gedruckt, die aber zahlreiche Änderungen enthielt, welche sich die Bearbeiter wohl eigenmächtig erlaubt hatten. Dafür konnte Balhorn nichts, denn er war ja lediglich der Drucker. Da auf dem Titelblatt jedoch nicht die Namen der Bearbeiter standen, stattdessen aber der Vermerk „Gedruckt zu Lübeck durch Johann Balhorn im Jahr 1586“, wurde „verballhornen“ zu einem geflügelten Wort.

Lübeck füllte meinen Kopf – mit Bildern, Wörtern und Geschichten. Doch auch mein Bauch ließ sich in Lübeck aufs Köstlichste füllen: Dort kann man nämlich exzellent „niedereggern“, sprich: ins Café gehen und ein Stück Lübecker Nusstorte verzehren, ein sündiger Traum aus Haselnüssen, Sahne und Marzipan. Das war schon als Kind ein Höhepunkt für mich, und meine Großmutter und ich waren uns einig, dass das Wort „niedereggern“ unbedingt in den Duden aufgenommen werden sollte.

(c) Bastian Sick 2013

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Dieser Text entstand im Auftrag der Zeitschrift „Merian“ für die Ausgabe „Lübeck und die Lübecker Bucht“.

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8 Kommentare

  1. Aha, vielen Dank, jetzt weiß ich endlich auch, woher „verhökern“ kommt. Mit freundlichen Grüßen, Hans Becker

    • Und „verhökern“ ist nur eines von vielen „ver“-Wörtern, mit denen man das Losschlagen einer Ware ausdrücken kann. Da gibt es noch:
      veräußern, verkaufen, verkloppen, verkümmeln, verramschen, verschachern, verscheuern, verscherbeln, versilbern, verticken. In der Schweiz kennt man außerdem „verquanten“, in Österreich „verschleißen“ und in Bayern „verscheppern“.

      Mehr dazu in der Kolumne „Verehren, verachten, vergönnen, verzeih‘n“

  2. Walter Hesekiel

    Ich habe versucht, Ihren Jugendwohnort genauer festzulegen. Die Poststraße und den Westring habe ich nicht gefunden, aber die Hauptstraße im Stadtteil Vorwerk. Habe ich richtig getippt, und wurde aus dem Westring vielleicht die Ringstraße und der Königsberger Ring?
    Ich habe meine Jugend in Schlutup verbracht. Vielen Dank für den schönen Artikel über Lübecks Straßen!

  3. Nicht in Lübeck und sicher nicht alt, da im Neubaugebiet, aber schön:
    „Auf dem Hähnchen“ in St. Goar-Biebernheim. Wer weiß, was dieser Straßenname für einen Ursprung hat!?

  4. Interessanter Artikel! Auch ich bin wie Sie auf dem Land groß geworden, in der Nähe der Stadt Trier. Auch dort gibt es spannende (und alte) Straßennamen, so zum Beispiel die „Große Eulenpfütz“ und „Sieh um dich“.

    Viele Grüße
    Michael Haller.

  5. Sehr interessant zu lesen!
    Wir haben Freunde in Lübeck und diese schon mehrfach in ihrer wunderschönen Stadt besucht. Ein Rundgang durch die Stadt ist immer wieder etwas Besonderes, und wenn man solche sinnigen Straßennamen liest wie „Hundestraße“, „Petersilienstraße“ oder die „Twiete“ merkt man: Die Lübecker hatten Fantasie!
    Aber in meinem Heimatort Bad Dürkheim gibt es auch sonderbare Straßennamen, etwa „Im Schreck“, den „Spitzachtmorgen“ oder die kleinen Finkenpfade – von 1 bis 5 einfach durchnummeriert. Andere Vögel sind ihnen da wohl nicht eingefallen. 😉
    Unweit des Speyrer Doms gibt es eine Straße „Hinterm Esel“, in Ludwigshafen die „Brechlochstraße“ und, gegenüber in Mannheim, Straßen mit Namen wie „Frohe Arbeit“, „Zäher Wille“ und „Kleiner Anfang“, auch „Aufstieg“ und „Abendröte“ … klingt leicht sozialistisch.

  6. Hat die städtische Hölle zufällig was mit der Trave-Hölle (direkt neben der Schlutuper Wiek, s. a.
    https://de.wikisource.org/wiki/Die_alte_Mordkuhle) zu tun? Ich frag das mal so an Hölloween 🙂

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