Stellen Sie sich vor, Sie werden bedroht. Auf der anderen Straßenseite steht ein Polizist. Wie rufen Sie ihn herbei? Mit „Wachtmeister“? Oder „Schutzmann“? Ehe es Ihnen einfällt, sind Sie ausgeraubt worden. Schuld ist weder der Räuber noch der Gendarm, sondern wieder nur der Wandel der Zeit.
Auf dem Weg zur Gepäckausgabe des Hamburger Flughafens fällt mein Blick auf die großflächige Anzeige eines Autoverleihers. Darauf sieht man eine junge Frau mit vom Wind zerzausten Haaren, und daneben steht zu lesen: „Welche Ampel, Herr Wachtmeister?“ Darunter folgt, in etwas kleinerer Schrift, der Hinweis, dass der Autoverleiher wieder Cabrios einer bestimmten Marke im Angebot habe. So weit, so witzig. Ansprechend ist die Werbung zweifellos, selbst wenn von der Frau aufgrund ihrer zersausten Frisur nicht viel zu erkennen ist. Was mir indes noch größere Rätsel als die haar-verschleierten Augen des Fotomodells aufgab, war das Wort „Wachtmeister“. Denn es wirkte an dieser Stelle seltsam. Der gute alte Herr Wachtmeister und die junge, rasante Cabriofahrerin schienen mir nicht recht zusammenzupassen. Und ich bin sicher, dass es nicht nur mir so ging. Ich sehe es förmlich vor mir, wie sich die Leute in der Werbeagentur den Kopf darüber zerbrochen haben, mit welchen Worten die Frau den Polizisten anreden soll. Jeder hatte das Gefühl, dass der „Herr Wachtmeister“ eigentlich längst aus der Mode geraten ist. Und doch fiel niemandem eine bessere Anrede ein. Was daran liegt, dass es keine bessere gibt.
Immer wieder kommt es vor, dass sich Berufsbezeichnungen ändern. Die frühere Sprechstundenhilfe ist heute eine Arzthelferin, und zur Stewardess sagt man inzwischen Flugbegleiterin. Für den Portier wird die Bezeichnung Front Desk Manager immer beliebter, und die Putzfrau von einst nennt sich heute Raumpflegerin oder Reinigungsfachkraft, wenn nicht gar „Fachfrau für Oberflächen“. Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden, das ist der Wandel der Zeit. Dumm ist es nur, wenn eine Berufsbezeichnung veraltet und aus der Mode gerät, der Beruf aber weiterhin besteht und es einfach kein neues Wort dafür gibt. Die Zeiten, da man einen Streifenpolizisten noch mit „Schutzmann“ anrufen konnte, sind lange vorbei. Und auch der „Wachtmeister“ ist antiquiert. Der sprachliche Umgang mit der Polizei stellt uns Deutsche vor ein Problem.
Unlängst befand ich mich in einer heiklen Situation. Es war während eines Volksfestes an der Hamburger Alster. Da schickte sich eine Gruppe alkoholisierter Jugendlicher zu randalieren an. Um eine Keilerei zu verhindern, suchte ich nach einem Ordnungshüter. Ich hatte Glück, denn nicht weit entfernt patrouillierten zwei Staatsdiener in Uniform. Während ich in ihre Richtung eilte, überlegte ich, wie ich sie ansprechen sollte. „Hallo, die Herren Wachtmeister“? Oder „Guten Abend, meine Herren Polizeibeamte“? Ich hatte sie schon fast eingeholt, da wurde ich gewahr, dass der eine Polizist weiblich war. Das machte die Sache noch komplizierter. Sollte ich etwas sagen wie: „Entschuldigen Sie, Herr und Frau Wachtmeister, es gibt dort drüben ein kleines Problem“? Nein, diese Möglichkeit verwarf ich sogleich.
In meiner Ratlosigkeit tat ich das, was meine Leser — und eigentlich auch ich selbst — am allerwenigsten von mir erwarten würden: Ich wich aufs Englische aus. „Hallo, Officer!“, rief ich. Immerhin, es funktionierte, die Beamten fühlten sich angesprochen und blieben stehen. Ein einfaches „Hallo“ oder „Entschuldigen Sie“ hätte es freilich auch getan, aber ist das wirklich eine Lösung?
Das Problem ließ mir keine Ruhe, und nachdem die beiden Beamten für Ordnung gesorgt hatten, stellte ich ihnen die Frage, wie sie eigentlich am liebsten angeredet würden: mit „Wachtmeister“, „Schutzmann“ oder „Herr Polizist“? Und wie ist es bei der Frau, sagt man da Frau Wachtmeister oder Frau Wachtmeisterin? Oder Grüß Gott, Frau Polizistin? Die beiden zuckten nur mit den Schultern und erwiderten, es sei ihnen ziemlich egal, solange man sie nicht mit „Bulle“ anreden würde.
Die Bezeichnung Wachtmeister für den Streifendienst wurde in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren abgeschafft. Offiziell werden Polizisten „Polizeivollzugsbeamte“ genannt, abgekürzt PVB. Die Amtssprache neigt ja dazu, Wörter erst umständlich aufzublähen, um sie anschließend wieder abzukürzen. So ist eine Ampel im offiziellen Amtsdeutsch auch keine Ampel, sondern ein „Wechsellichtzeichen“ oder eine „Lichtzeichenanlage“, kurz LZA. In verkürzter Amtssprache hätte die Frage der Cabriofahrerin also lauten müssen: „Welche LZA, Herr PVB?“ Das wäre aber erst recht seltsam gewesen.
Der Räuber Hotzenplotz hat’s gut, denn er ist auch heute noch ein Räuber — und nicht etwa eine „Fachkraft für Eigentumsdelikte“. Doch was ist mit Herrn Dimpfelmoser? Vorbei die Zeiten, als Kasperl, Seppel und Großmutter noch erleichtert wie aus einem Munde riefen: „Sie schickt der Himmel, Herr Oberwachtmeister!“
(c) Bastian Sick 2007
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.