Liebe Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgangs 2010!
Irgendein weiser Mensch hat mal gesagt:„Die Zeit nach dem Abi ist die Zeit vor dem Abi“. Damit hatte er vielleicht sagen wollen, dass das Leben voller Prüfungen steckt und dass das Abitur erst den Anfang einer langen Reihe von Herausforderungen bildet. Vielleicht wollte er auch nur sagen, dass er durchgefallen war und das Abi wiederholen musste. Vielleicht aber war er einfach ein Lehrer. Denn als Lehrer wird man schließlich alle Jahre wieder zum Abitur gerufen.
Ich kann mich noch sehr deutlich an die Zeit erinnern, als ich Abitur machte. Vor allem an das befreiende Gefühl, mit der Schule abgeschlossen zu haben. Nie wieder um 7 Uhr aufstehen müssen, nie wieder Hausaufgaben und nie wieder Mannschaftssport! Dachte ich. Und irrte mich. Denn als nächstes ging es für mich erst mal zur Bundeswehr: Da wurde man morgens sogar schon um 6 Uhr aus den Betten gepfiffen, lernen musste man auch, und der Gruppensport war noch heftiger als auf der Schule. Als ich das überstanden hatte, begann ich zu studieren: Französisch und Geschichte. Das waren – neben Deutsch – immer meine Lieblingsfächer gewesen. Doch was fängt man damit an? Klar: Man wird Lehrer! Was blieb mir auch anderes übrig: Meine Eltern waren Lehrer, die Freunde meiner Eltern waren Lehrer, meine Lehrer waren Lehrer – ich kannte ja gar nichts anderes!
Ein paar Semester studierte ich also halbherzig Pädagogik nebenher. Aber dann wurdemir bewusst, dass ich mich – sollte ich wirklich Lehrer werden – wieder jeden Morgen um 7 Uhr aus den Federn quälen dürfte, dass ich mich mit Hausaufgaben und Korrekturen herumschlagen müsste und womöglich zur Aufsicht bei Sportwettkämpfen zwangsverpflichtet würde. Also riss ich das Ruder herum, warf die Pädagogik über Bord, steuerte das Studienziel „Magister“ an und erzählte allen, die mich nach meinen beruflichen Plänen fragten, ich würde mal was „mit Medien“ machen.
Das fanden alle beeindruckend. Vor allem mein fast schwerhöriger Onkel Viktor, der verstand nämlich, ich wolle was „mit Mädchen“ machen und verlangte genauere Informationen über diesen äußerst interessanten Studiengang.
„In die Medien gehen“ hatte seinerzeit einen geradezu magischen Beiklang, darin lagen mehr Coolness und Hipness, als man sich heute vorstellen kann. „In die Medien gehen“, das war fast so abgefahren wie Informatiker zu werden – oder Stewardess bei der Lufthansa.
Mein Weg „in die Medien“ führte mich in die Redaktion von SPIEGEL ONLINE. Aber statt spannende Berichte oder gar Leitartikel zu schreiben, war icherst einmal als Schlussredakteur angestellt – und durfte vier Jahre lang die Texte meiner schreibenden Kollegen korrigieren. Und das war ungefähr so spannend und glamourös wie das Korrigieren von Klassenarbeiten. (Mit dem Unterschied, dass in Klassenarbeiten weniger Fehler stecken als in Internet-Artikeln.)
Ich fühlte mich fehl am Platz und unterfordert. Ich begann zu kämpfen – und bekam meine eigene Kolumne: den „Zwiebelfisch“, eine regelmäßig erscheinende Glosse über die deutsche Sprache. Und ich hatte Erfolg. Viele Menschen schrieben mir: Beamte, Richter, Anwälte und: Lehrer! Die gaben mir viele kluge Tipps, zum Beispiel: „Schreiben Sie doch mal was über den Genitiv! Den benutzt heute kaum noch jemand korrekt!“ Ich machte meine Hausaufgaben und schrieb über den Genitiv.
Ein Jahr später erschienen die gesammelten Kolumnen im Buch – das sich erstaunlich gut verkaufte: zwei Millionen Mal bis heute. In vielen Schulen wurden meine Texte im Unterricht eingesetzt. Im Saarland und in Niedersachsen kam ich sogar auf den Lehrplan. Seitdem gelte ich auf dem Gebiet der deutschen Sprache als „Konifere“ (wie meine Freundin Sibylle sagt); gelegentlich werde ich sogar als „Oberlehrer der Nation“ tituliert. Und mit einiger Verwunderung, aber nicht unglücklich stellte ich fest: Ich war am Ende also doch dort gelandet, wohin ich eigentlich nicht wieder hatte zurückkehren wollen: Ich war wieder in der Schule. Zwar kann ich morgens ausschlafen, aber vor dem Abi kann ich mich nicht drücken. Für dieses Grußwort mache ich sogar Überstunden! Und dabei wird‘s nicht bleiben, denn: Nach dem Abitur ist vor dem Abitur!
Was immer euch, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, da draußen erwartet: Geht es gelassen an und verzagt nicht! Selbst wenn ihr jeden Tag früh aufstehen müsst und am Ende wieder dort landet, wo ihr losmarschiert seid: Es ist der Mühe wert, denn es ist das Leben!
(Man kann auch sagen: Es ist die Mühe wert, aber wer wäre ich, dass ich die Gelegenheit zu einem Genitiv ungenutzt ließe?)
„Make the most of now“ – so lautet der Werbespruch einer Telefongesellschaft. Eine Befragung ergab, dass viele Deutsche mit englischen Werbesprüchen nicht viel anfangen können; oft verstehen sie sie gar nicht oder falsch. Einer der Befragten übersetzte den Spruch mit den Worten: „Nun mach mal den Most auf!“ Ein treffenderes Motto kann ich mir für euch nicht ausdenken, in diesem Sinne: Macht den Most auf!
Bastian Sick
Hamburg, im Mai 2010