Eine Deutschschülerin aus Bulgarien befasst sich für eine Arbeit zum Thema „Sprache im Wandel“ unter anderem mit dem Genitiv. Sie wandte sich an mich, um zu erfahren, wie es um den Genitiv bestellt ist. Lesen Sie hier ihre Fragen und meine Antworten.
In Ihren Büchern und Zwiebelfisch-Kolumnen haben Sie unter anderem den Rückgang des Genitivs im heutigen Sprachgebrauch thematisiert. Ist die Zukunft des zweiten Falles ernsthaft bedroht?
Bastian Sick: Es gibt tatsächlich Grundschullehrer, die den Genitiv nicht unterrichten, weil er in ihrer Region ohnehin nicht praktiziert wird und nach ihrer Auffassung die jungen Schüler nur verwirren würde. Dabei ist es Aufgabe der Lehrer, standardisiertes Hochdeutsch zu vermitteln, damit auch den dialektsprechenden Schülern später beruflich alle Türen offenstehen. Ferner gibt es Radiosender, die mit der offiziellen Anweisung arbeiten: „Keinen Genitiv! Das überfordert die Hörer!“ Dabei handelt es sich natürlich nicht um Sender, die das Wort „Info“ oder „Kultur“ im Namen tragen, sondern eher um solche, die irgendwas mit „Hit“ oder „Antenne“ heißen. Der Genitiv war nie ein Volksgut, sondern immer ein Bildungsgut. In der Sprache des Bildungsbürgertums ist er nach wie vor sehr lebendig.
Warum wird der Verfall des Genitivs von vielen Menschen nicht ernst genommen, obwohl es zahlreiche Beispiele für einen solchen Verfall gibt?
Bastian Sick: Vielleicht, weil es dringendere Probleme gibt als die Beschäftigung mit Grammatik. Wie die Pisa-Studien gezeigt haben, ist es um die allgemeine Lese- und Schreibfähigkeit der Deutschen nicht zum Besten bestellt, dagegen scheinen Sorgen um den Genitiv eher Luxusprobleme zu sein. Außerdem ist die Sprache einem ständigen Wandel unterworfen, täglich verschwinden irgendwelche Wörter aus unserem Sprachgebrauch, und dafür kommen neue hinzu. Auch die Grammatik ist davon betroffen.
Ist eine Sprachreform vorstellbar, die den Genitiv ganz offiziell aus dem Sprachstandard verbannt und ihn somit Geschichte werden lässt?
Bastian Sick: Vorstellbar ja, wünschenswert jedoch nicht. Die Geschichte hat gezeigt, dass es nie zum Guten war, wenn der Staat sich in die Sprache seines Volkes einmischte und Wörter vorschrieb oder verbot. Ob Kaiserreich, Nazidiktatur oder SED-Regime: Stets war es ein Anliegen der Machthaber, den Sprachgebrauch zu kontrollieren und das Volk durch Zensur zu gängeln. Selbst in der Demokratie ist Einmischung des Staates nicht von Vorteil, wie die Rechtschreibreform gezeigt hat. Zehn Jahre wurde daran gebastelt und geschraubt, unglaublich viel Unsinn verzapft, um am Ende das meiste wieder rückgängig zu machen.
Wie wirkt sich der Verfall des Genitivs auf die deutsche Sprache aus?
Bastian Sick: Meistens übernimmt der Dativ die Funktion des Genitivs. Neben dem standardsprachlichen „wegen des Wetters“ ist heute auch „wegen dem Wetter“ akzeptiert. Viele Verben, die einst mit Genitiv standen, werden inzwischen anders verwendet, wie z. B. „sich erinnern“ oder „sich schämen“: „Ich erinnere mich seiner“ wurde zu „Ich erinnere mich an ihn“. „Ich schäme mich dessen“ wurde zu „Ich schäme mich dafür“. Die Sprache wird in jedem Fall überleben, auch ohne Genitiv. Noch aber gibt es ihn, und ich werde mich weiterhin lustvoll seiner Sache annehmen, denn lieber bin ich des Genitivs lebendig gewahr, als dass ich seiner in stiller Trauer gedenken müsste.
Wie denken Sie über die umgekehrte Tendenz, dass Präpositionen, die traditionell mit dem Dativ stehen (z. B. „dank“ und „gemäß“), zunehmend häufiger mit Genitiv verwendet werden?
Bastian Sick: Ich weiß nicht, ob es sich dabei um eine neue Erscheinung handelt. Einige Präpositionen haben sich immer schon im (Ver-)Wechselspiel zwischen Dativ und Genitiv befunden.
„Unweit“ und „nahe“ sind praktisch gleichbedeutend, doch was sich „unweit des Flusses“ befindet, ist nicht „nahe des Flusses“, sondern „nahe dem Fluss“, auch wenn es „in der Nähe des Flusses“ liegt.
„Gegenüber“ ist auch so ein Fall. Ich habe zahlreiche Beispiele aus der Lokalpresse, in denen es „gegenüber des Gefängnisses“, „gegenüber des Klosters“ oder „gegenüber des Rheinfalls“ heißt.
Hinter „dank“ ist der Genitv keineswegs falsch. Bei „dank“ handelt es sich um eine „unechte“ Präposition, die aus einem Hauptwort entstanden ist, genauso wie „trotz“, „statt“ und „kraft“. Diese unechten Präpositionen stehen in der Regel mit Genitiv. Dass hinter „dank“ auch oft der Dativ zu hören ist, liegt an der Phrase „Dank sei“: „Dank sei eurem Einsatz“ wurde verkürzt zu „dank eurem Einsatz“. Bei mir heißt es nach wie vor „dank eures Einsatzes“. Bei mir hieß es aber auch mal „entgegen eines alten Volksglaubens“, bis mich ein Leser darauf hinwies, dass „entgegen“ doch bitteschön mit dem Dativ gebraucht wird. Das war des Guten zu viel!
Die Fragen stellte Elena Aleksandrova aus Varna (Bulgarien)
Aktueller Zwiebelfisch: Mann Gottes und des Genitivs
Lieber Herr Sick, offenbar ist nicht nur der Genitiv gefährdet, sondern manchmal auch der Dativ. Ich beobachte im Sprachgebrauch von jungen Leuten die Tendenz, statt „außer mir“ den Nominativ zu verwenden: „Alle waren eingeladen, außer ich.“ – „Alle haben es gemerkt, außer ich.“ Wurden Sie damit auch schon konfrontiert? Es handelt sich nicht um Einzelfälle! Meine Tochter war sogar empört über meine Verbesserung.
Schöne Grüße aus Augsburg!
Ihre beiden Beispiele rechne ich einerseits zum Thema Aufweichung der Kasusgleichheit von Appositionen (Dativ anstatt Gen. oder Akkusativ). Andererseits kann man auch der Meinung sein, dass „außer“ zu einem verkürzten Satz gehört: „Außer ich (war eingeladen)“; das hängt davon ab, ob man „außer“ als Präposition oder als Konjunktion interpretiert. Unter diesem Aspekt haben sowohl Sie als auch Ihre Tochter recht.
MfG aus Freiburg/Br.
Die deutsche Sprache ändert sich andauernd, erstens durch ihre Plastizität, die es erlaubt, neue zusammengesetzte Wörter zu bilden; eine Eigenschaft, die sie mit dem Sanskrit teilt, zweitens und vor allen Dingen, weil es für das Deutsche keine Akademie gibt, die der Académie Française entsprechen würde. Die französische Sprache ist seit dreihundert Jahren praktisch eingefroren. Nur die Phonetik ändert sich über die Jahre. Wenn man heute eine politische Rede aus den dreißiger Jahren hört, fällt einem der Tonfall und die näselnde Aussprache auf. Auch gibt es heute keinen phonetischen Unterschied mehr zwischen „un“ und „in“. Die Grammatik bleibt indes unverändert.
Ich lebe seit den fünfziger Jahren im Ausland, und wenn ich meinen Bruder in Deutschland treffe, lacht er mich aus, denn „ich würde das Deutsch der Adenauer-Jahre“ sprechen.
Zum Beispiel „erinnern“: Inzwischen sagen doch viele „ich erinnere dass….“. Dass erinnern in der Regel reflexiv verwendet wird, wissen viele nicht mehr (und nicht nur Grönemeyer oder andere Westfalen).
Lieber Herr Sick,
Sie schreiben „Ob Kaiserreich, Nazidiktatur oder SED-Regime: Stets war es ein Anliegen der Machthaber, den Sprachgebrauch zu kontrollieren und das Volk durch Zensur zu gängeln.“ Doch wie ist um solche (offiziellen) Wortungetüme wie das folgende bestellt: „Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik?“ Darin sind gleich zwei Fehler enthalten: In der DDR gab es keinen Sicherheitsdienst, sondern das Ministerium für Staatssicherheit. Das gefiel uns zwar nicht, war aber sprachlich korrekt. Dafür gab es im Dritten Reich den Sicherheitsdienst der SS. Hier werden – politisch gewollt – zwei vollig unterschiedliche Behörden auf eine gemeinsame Ebene gestellt, indem man einfach der einen den Namen der anderen überstülpt. Schließlich existierte ebensowenig eine ehemalige DDR, wie es ein ehemaliges Kaiserreich oder eine ehemalige Weimarer Republik gab. Wozu dient also diese sinnlose Betonung? Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass es auch in der Demokratie üblich ist, den Sprachgebrauch seitens der Machthaber zu diktieren und zu kontrollieren.
Sie glauben gar nicht, welche Freude Sie mir mit solchen Beiträgen bereiten. Der Genitiv lebt! Ich bin deutschsprachige Belgierin, DAF Lehrerin in Lüttich/Belgien und verfüge leider nur noch über RTL plus als Fernsehsender. Ich tue mir diese Informationsquelle äußerst selten an ( Günther Jauch passt mir, der Rest…) auch aus dem Grund, dass die dort praktizierte Sprache mich an meiner eigenen zweifeln lässt.
Vielleicht bin ich ein hoffnunsloser Snob, aber das ist mir in diesem Fall egal. Ich liebe den Genitiva aus ganzem Herzen und unterrichte weiter, was ich gelernt habe, wie ich es gelernt habe und freue mich über alles, was mich darin bestärkt.
PS : Ich setze einfach frech voraus, dass es „Snob“ nicht in der weiblichen Form gibt…
Grüße aus Belgien