Der Genitiv ist ein schmückendes Accessoire, ein sprachlicher Luxus. Wirklich notwendig ist er nicht. Viele Menschen kommen ihr ganzes Leben ohne ihn zurecht. Vielleicht wird der Genitiv eines Tages komplett verschwunden sein. Dann wird man die Literatur neu bearbeiten müssen. Diese Geschichte liefert schon mal einen Vorgeschmack.
In den vergangenen Jahren bin ich mit meinen Büchern oft auf Reisen gewesen, zahlreiche Buchhandlungen haben mich zu Lesungen eingeladen, und so habe ich viel von Deutschland gesehen und erfahren. Eines tristen Tages gelangte ich denn auch in die schöne Stadt Köln. Oder war es umgekehrt: War der Tag schön und die Stadt war … Düsseldorf? Nein, es war Köln, dessen bin ich sicher.
Ein gewisser Herr Schmitz hatte mich für einen Vortrag gebucht. Und ich hatte mich gut vorbereitet, denn ich wusste, dass ich mich in ein grammatisches Entwicklungsgebiet begab. Herr Schmitz empfing mich auf eine liebenswürdige Art, wie es nur die Kölner können. Kurz bevor es losging, nahm er mich zur Seite und raunte mir ins Ohr: „Eines noch, Herr Sick, das müssen Sie noch wissen. Der Genitiv, der ist bei uns hier in Köln praktisch tot. Den kennt hier keiner, den braucht auch keiner. Ihr Publikum heute Abend, das sind alles Kunden von meiner Firma, alles waschechte Rheinländerinnen und Rheinländer. Die sind auch ohne Genitiv schon jeck, verstehen Sie? Die muss man nicht noch zusätzlich verunsichern. Lesen Sie einfach irgendeine von Ihren lustigen Geschichten, ganz egal welche, aber lassen Sie den Genitiv aus dem Spiel!“ Als er meines entsetzten Gesichtsausdrucks gewahr wurde, klopfte er mir aufmunternd auf die Schulter und sagte: „Sie machen das schon!“
Und bevor ich noch etwas erwidern konnte, war Herr Schmitz schon aufs Podium gestiegen und stellte mich dem Publikum mit überschwänglichen Worten vor: „Hier kommt ein Mann, der sich dem Thema deutsche Sprache angenommen hat!“ Höflicher Beifall brandete auf. Ich trat ans Rednerpult, raschelte etwas nervös in meinen Papieren und räusperte mich: „Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Ihnen ein Märchen von Hans Christian Andersen mitgebracht, das ich ein wenig bearbeitet habe, und ich hoffe, es wird Ihnen gefallen.“ Hastig nahm ich einen Schluck Wasser, um die trockene Kehle zu befeuchten, dann hub ich an: „Es trägt den Titel: Des Kaisers neue Kleider.“
Bestürzt hielt ich inne. Das war ja ein Genitiv! Was war nur in mich gefahren – wollte ich die Leute etwa schon in der Überschrift kompromittieren? Verunsichert blickte ich zu Herrn Schmitz, der missbilligend den Kopf schüttelte. Ich räusperte mich noch einmal, nahm einen weiteren hastigen Schluck aus dem Wasserglas und begann von Neuem: „Dem Kaiser seine neuen Kleider“. Ein „Ah!“-Raunen ging durch den Saal – das Märchen war meinen Zuhörern offenbar bekannt –, und aus Herrn Schmitz‘ Richtung war ein erleichtertes Seufzen zu vernehmen.* Also las ich weiter:
Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, dessen einzige Lust – pardon: dem seine einzige Lust – darin bestand, in immer neuen Kleidern zu wandeln und dem Volke seine kostbaren Röcke vorzuführen.
Ich stockte erneut. Würden die Kölner diese Formulierung womöglich als besitzanzeigenden Dativ auffassen und „dem Volke seine kostbaren Röcke“ als „kostbare Volksröcke“ deuten? Ich durfte mir meine Verunsicherung nicht allzu sehr anmerken lassen und beschloss daher, zügig weiterzulesen:
Eines Tages – nein, will sagen: an einem Tag–, da kamen zwei Betrüger in die Stadt, die gaben sich als Weber aus und behaupteten, Meister ihres Faches zu sein. Meister von ihrem Fach, um es verständlicher zu sagen. Sie würden die allerbesten Tuche weben, so fein, dass nur derjenige ihrer gewahr würde, der seines Amtes würdig sei.
Katastrophe! War ich denn des Wahnsinns? Wie konnte ich nur so einen Satz durchgehen lassen! Die Sache bedurfte einer sofortigen Klarstellung: In Wahrheit haben die Weber natürlich nichts anderes behauptet, als dass sie Kleider machen können, die ein dummer Mensch nicht sehen kann. Und ich fuhr fort: Das erweckte des Kaisers Neugier.
Und Letzteres wiederum die Missbilligung meines Gastgebers Herrn Schmitz. Flugs verbesserte ich:
Das machte den Kaiser neugierig, und er befahl ihnen, ihm ein solches Gewand anzufertigen, koste es, was es wolle. Die Weber verlangten von ihm dafür Seide, Silber und Gold. Der Kaiser klatschte in die Hände und trug seinen Ministern auf: „Bringet alles herbei, wessen es bedarf! Des Guten kann es nicht zu viel sein!“
Spätestens an dieser Stelle war klar, dass dieser Kaiser nie und nimmer in Köln gelebt haben konnte.
Schnellen Schrittes gingen die Minister, das Gewünschte zu holen. Frischen Mutes machten sich die Weber ans Werk. Vergessen Sie einfach die letzten beiden Sätze.
Nach ein paar Tagen wurde der Kaiser ungeduldig und ließ die Weber zu sich holen, auf dass sie ihm vom Fortgang ihrer Arbeit Bericht erstatteten. „Wir brauchen mehr Seide!“, riefen sie. „Und Gold! Erheblich mehr Gold!“ – „Und wenn ihr noch etwas Silber habt, auch das!“ Der Kaiser nickte. Die Minister eilten. Die Weber webten. Zumindest gaben sie sich den Anschein. Unterdessen – ich berichtige: unterdem – rückte der Geburtstag des Kaisers – also der kaiserliche Jubeltag – immer näher, und das Volk war voller Erwartung ob des angekündigten prächtigen Gewandes. Anders ausgedrückt: Das Volk war sehr gespannt auf den neuen kaiserlichen Fetzen.
Als der Geburtstag gekommen war, erschienen die Weber in des Kaisers Gemach. Sie wissen schon: das Zimmer, wo draußen dransteht: „Dem Kaiser seins“. „Herr, wir bringen euch euer neues Gewand!“, verkündeten sie. Der Kaiser erschrak, denn er konnte es nicht sehen. Dabei war er sich seiner Sache so sicher gewesen.
Ja, das kommt davon! Wäre er von seiner Sache nicht ganz so sicher gewesen, dann hätte er viel Gold und Silber sparen können!
Der Kaiser durfte sich natürlich nichts anmerken lassen, und so schlüpfte er in die Kleider, die gar nicht da waren, zeigte sich voll des Lobes – also ziemlich voll mit Lob – und trat erhobenen Hauptes – um nicht zu sagen mit erhobenem Haupt – hinaus vor das Schloss.
Die Menschen, die seines Erscheinens schon seit Stunden geharrt … die schon seit Stunden auf ihn gewartet hatten, gerieten in äußerstes Entzücken und riefen: ,Welche Muster! Welche Farben! Und wie gut die Schleppe sitzt!‘ Niemand wollte sich anmerken lassen, dass er in Wahrheit gar nichts sah, denn sonst hätte man ihn womöglich der Dummheit geziehen – oder ihn zum Vollidioten abgestempelt.
Da rief schließlich ein Kind: „Aber er hat ja nichts an! Warum hat der Kaiser denn nichts an?!“ Und Kindermund tut bekanntlich Wahrheit kund. Darauf ging ein Raunen durch die Menge: „Das Kind hat Recht! Um Himmels willen! Der Kaiser ist völlig nackt!“
Wie – um Himmels willen – sagt man ,um Himmels willen‘ ohne Genitiv? ,Um dem Himmel seinen Willen‘? Weiß der Teufel! Ist auch schnurz, denn wir sind ohnehin gleich am Ende.
Ungeachtet des Raunens – also ohne das Raunen zu beachten – setzte der Kaiser seine Prozession fort, aufrechten Ganges – oder wenigstens aufrecht gehend –, und die Kammerdiener trugen die Schleppe, die gar nicht da war.
So endete das Märchen. Und der Geschichte ihre Moral? Genitiv oder Dativ – mir war inzwischen alles egal! Denn ob nach dieser oder jener Art – ist letztlich ein Streit um dem Kaiser seinen Bart.
Das Publikum applaudierte höflich, und ein sichtlich bewegter Herr Schmitz kam auf mich zu, tätschelte mir die Schulter und sagte: „Sehen Sie, war doch gar nicht so schwer! Sie waren für alle gut zu verstehen!“ Ich tupfte mir ein paar Schweißperlen von der Stirn und lächelte dankbar. „Und übrigens“, fügte Herr Schmitz hinzu, „damit Sie es wissen: ,Dem Kaiser seine neuen Kleider‘ ist nicht grundsätzlich falsch! Es kommt auf den Zusammenhang an!“ – „Auf welchen Zusammenhang?“, fragte ich, „den regionalen?“ – „Nein“, erwiderte er, „auf den grammatischen! Es ist doch alles in bester hochdeutscher Butter, wenn es heißt: ,So stehen dem Kaiser seine neuen Kleider noch viel besser‘!“
*Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ erschien 1837 – übrigens auch im dänischen Original mit Genitiv: „Keiserens nye Klæder“. 1839 wurde es erstmals ins Deutsche übersetzt. Seitdem wurde der Stoff mehrfach bearbeitet, vertont und verfilmt. Unübertroffen ist die Lesung von Hans Paetsch. Die jüngste Fernsehbearbeitung im Auftrag von Pro7 stammt aus dem Jahr 2006 und trug den reißerischen Untertitel „Mode, Mob und Monarchie“.
Die Schüleraufgabe (Oberstufe): Markieren Sie alle Genitive im Text. Konstruktionen wie „des schönen Hauses“ oder „schweren Herzens“ zählen jeweils als ein Genitiv. Auf wie viele Genitive kommen Sie insgesamt?
Die Schüleraufgabe (Unterstufe und Mittelstufe): Markiere alle Genitive (Wes-Fälle) im Text und zähle sie. Konstruktionen wie „des schönen Hauses“ oder „schweren Herzens“ gelten jeweils als ein Genitiv. Auf wie viele Genitive kommst du insgesamt?
Beitrag eines Lesers aus der Schweiz:
Hier in der Schweiz, wo die hochdeutsche Sprache bekanntlich nur im äußersten Notfall verwendet wird, gestaltet sich der Titel des in Ihrem Artikel genannten Märchens wie folgt:
(c) Bastian Sick 2010
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 5“ erschienen.