Einst bat man um Verzeihung, um Pardon oder um Entschuldigung. Heute heißt das „Tschuldigung!“ oder „Sorry!“, und man braucht auch nicht mehr umständlich darum zu bitten, sondern entschuldigt sich einfach selbst. Das ist sehr praktisch, wenn auch nicht gerade logisch.
Wer sich falsch verhält und in einer bestimmten Situation versagt, der lädt eine moralische Schuld auf sich. Niemand ist dagegen gefeit. Schon eine kleine Unachtsamkeit, eine Nachlässigkeit oder ein Versäumnis können zu einer Schuld führen. Prompt hat man ein schlechtes Gewissen und kann nachts nicht mehr schlafen. Deshalb hat man ein verständliches Interesse daran, diese Schuld möglichst schnell wieder loszuwerden. Man kann versuchen, sie wiedergutzumachen, indem man einen Geldbetrag spendet, einen Blumenstrauß kauft, barfuß nach Canossa geht oder sich öffentlich im Fernsehen bekennt. Es geht aber auch weniger aufwändig, indem man nämlich einfach um Entschuldigung bittet.
In früheren Zeiten sagte man „Ich bitte um Entschuldigung“ oder „Bitte entschuldigen Sie mich“. Selbst das kurze Austreten zur Toilette wurde mit einem „Wenn Sie mich für einen kleinen Moment entschuldigen würden“ zur formschönen Angelegenheit. Heute macht man es sich leichter. Inzwischen wird das Verb „entschuldigen“ nämlich meistens reflexiv gebraucht:
Ich entschuldige mich, du entschuldigst dich, er entschuldigt sich, wir entschuldigen uns usw.
Statt auf den Schuldfreispruch eines anderen zu warten, sprechen wir uns einfach selbst von der Schuld frei. Unangemeldet in eine Sitzung geplatzt? Kein Problem! Da sagt man einfach: „Ich entschuldige mich für die Störung!“ Die anderen, die man aus dem Gespräch gerissen hat, werden gar nicht erst gefragt. Man entschuldigt sich kurzerhand selbst, und damit ist die Sache vom Tisch.
Das kommt aber nicht immer gut an. Nicht jeder begegnet uns mit Verständnis, wenn wir uns entschuldigen, denn mitunter steht dem Verständnis ein Missverständnis im Wege. Ich kann mich noch sehr lebhaft an einen Dialog zwischen einem Studenten und einem Professor erinnern, der sich während eines Geschichtsseminars zutrug. Der Student, auf dessen Referat wir alle warteten, hatte sich um 20 Minuten verspätet und sagte: „Tut mir leid, dass Sie warten mussten, ich entschuldige mich!“, worauf der Professor erwiderte: „Wie praktisch, dann brauche ich es ja nicht mehr zu tun!“ – „Was denn?“, fragte der Student verwirrt. „Nun, Sie entschuldigen!“, antwortete der Professor und fuhr erklärend fort: „Ich hätte Sie ja ohne weiteres entschuldigt, und Ihre Kommilitonen hätten es sicherlich auch, aber Sie sind uns zuvorgekommen und haben es bereits selbst getan.“ – „Was habe ich getan?“, fragte der Student. „Na, sich entschuldigt!“, entgegnete der Professor seelenruhig. Der Student verstand nun gar nichts mehr: „Äh, ja, und… sollte ich das denn nicht? Ich habe Sie doch immerhin 20 Minuten warten lassen!“ – „Eben“, schloss der Professor, „daher wäre es an uns gewesen, Sie zu entschuldigen, aber das hat sich nun erledigt.“
Heute ist der reflexive Gebrauch des Verbs „entschuldigen“ Standard. Es ist also nicht falsch, „ich entschuldige mich“ zu sagen. Denn nicht nur die Schreibweise von Wörtern ändert sich, auch die Bedeutung kann sich wandeln. Laut Duden ist „sich entschuldigen“ gleichbedeutend mit „um Nachsicht, Verständnis, Verzeihung bitten“, und man kann sich sowohl für etwas als auch wegen etwas bei jemandem entschuldigen. Manchem erscheint es dennoch ein wenig seltsam; und das kann man verstehen, wenn man sich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „entschuldigen“ bewusst macht: „Entschuldigung“ stand für die Aufhebung von Schuld. Sie konnte vom Schuld-Verursacher erbeten oder erfleht, vom Schuld-Opfer gewährt oder verweigert werden. Im Laufe der Sprachgeschichte hat die „Entschuldigung“ aber noch andere Bedeutungen angenommen. So ist „Entschuldigung“ in bestimmten Zusammenhängen gleichbedeutend mit „Begründung“ und „Rechtfertigung“:
„Was können Sie zu Ihrer Entschuldigung vorbringen?“
„Das kann man als Entschuldigung gelten lassen.“
Nicht zu vergessen natürlich die Entschuldigung, die Eltern für ihre Kinder schreiben, wenn diese mit Fieber im Bett liegen und nicht am Unterricht teilnehmen können. Gelegentlich schreiben Schüler auch für sich selbst Entschuldigungen, zum Beispiel wenn sie im Playstation-Fieber liegen. In diesem Fall wird man das Sich-selbst-Entschuldigen allerdings nicht so einfach durchgehen lassen wie bei dem Studenten, der sich für sein Zuspätkommen selbst entschuldigt.
Ich finde es nicht schlimm, wenn sich jemand selbst entschuldigt. Man kann doch schon froh darüber sein, wenn heute überhaupt noch um Entschuldigung gebeten wird. Das ist nämlich alles andere als selbstverständlich. Aber wenn ich in einem alten Spielfilm höre, wie jemand sagt: „Pardon, ich bitte vielmals um Entschuldigung“, dann gerate ich ins Schwärmen.
Das Eingeständnis eines Fehlers oder Versagens ist nicht sehr angenehm, daher sind viele Menschen bemüht, sich selbst als Verursacher des Fehlers so weit wie möglich rauszuhalten. So bittet man bevorzugt nicht für sich selbst um Entschuldigung, sondern für den Fehler. Man tut also so, als sei der Fehler ein eigenständiges Wesen, ein Hündchen, das nicht sauber pariert hat. Da erklärt uns zum Beispiel eine Lautsprecherstimme in der U-Bahn, dass aufgrund irgendwelcher Bauarbeiten mal wieder alles anders komme als geplant, und schließt mit den Worten: „Wir bitten die entstehenden Unannehmlichkeiten zu entschuldigen“. Das ist psychologisch sehr raffiniert. Nicht die Leitung der U-Bahn soll entschuldigt werden, sondern die bösen, bösen Unannehmlichkeiten. Bei denen liegt die Schuld, folglich können auch nur sie ent-schuldigt werden. Dass die U-Bahn-Leitstelle sich für eine Entschuldigung ihrer Unannehmlichkeiten einsetzt, ist sehr großherzig. So nett sind die bei der U-Bahn zu ihren Unannehmlichkeiten!
Das alles ist Ihnen zu haarspalterisch? Dann bitte ich Sie, mir zu verzeihen. Das kann ich übrigens noch nicht selbst. Wohl gemerkt: noch nicht. Aber wer weiß. Vielleicht heißt es irgendwann: „Ich verzeihe mir in aller Form, dass ich Sie belästigt habe!“
(c) Bastian Sick 2006
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.
Sehr geehrter Herr Sick, ich las soeben Ihren Artikel ,,Entschuldigen Sie mich – sonst tu ich es selbst!” und war wie immer begeistert. Ich habe mich zwar noch nie selbst entschuldigt – wer weiß, ob ich überhaupt qualifiziert genug bin, um diesen Vorgang selbst vorzunehmen –, aber bewusst darauf geachtet habe ich vorher auch nie.
Als ich bei der Stelle war, in der Sie erklären, dass mit ,,entschuldigen“ die Aufhebung der Schuld gemeint ist und mich mein Gegenüber genau in diesem Moment fragte, ob ich denn bitte den letzten Schluck Wasser aus meiner Flasche entleeren könne, weil er zum Pfandautomaten wolle, stellte sich mir eine Frage: Wenn mit ,,ent-schuldigen” die Aufhebung der Schuld gemeint ist, müsste doch das ,,Ent-leeren” eines Gefäßes gleichbedeutend mit der Befüllung von selbigem sein, denn ich hebe ja den Zustand der Leere auf. Beim Entdecken wird der Zustand der Unklarheit, wie die Schuld beim Entschuldigen, aufgelöst/aufgehoben. Beim Entweichen von Luft und Ähnlichem hingegen haben wir wieder das gleiche Szenario, wie beim Entleeren. Wo ist der Haken? Was verstehe ich hier nicht? Über eine Antwort würde ich mich freuen. Mit freundlichen Grüßen aus dem Erzgebirge
Kevin Weiß
Lieber Herr Weiß! Da sind Sie auf ein wirklich interessantes Phänomen gestoßen. Tatsächlich scheint „entleeren“ eines der ganz wenigen Wörter mit „ent-“ zu sein, bei denen der Kern nicht abgezogen, sondern hinzugefügt wird.
Eigentlich müsste es nicht „entleeren“, sondern „entfüllen“ heißen. Oder „beleeren“, weil die Leere hinzugefügt wird. Aber das klänge wohl zu sehr nach einer Belehrung.
Mit Logik ist „entleeren“ daher nicht zu erklären, es entstand vermutlich einfach durch Analogiebildung: Weil „ent-“Wörter meistens ein Wegnehmen, einen Abzug bedeuten, hat man dem „leeren“ gleichfalls ein „ent-“ vorangestellt.
Herzliche Grüße aus Hamburg! Ihr Bastian Sick
Lieber Bastian Sick, seit dem ersten Erscheinen dieser Kolumne habe ich sie schon unendliche Male gelesen; immer dann, wenn mich die Tatsache, dass sich ein „Übeltäter“ selbst entschuldigte, fast rasend machte.
Meist bleibe ich ziemlich gelassen, wenn jemand sich etwas verspätet und dann locker sagt: „Tschuldigung …“
Doch wenn ein Bischof im Zuge einer mehr als verspäteten „Aufklärung“ der Missbrauchsfälle gegenüber Schutzbefohlenen sagt: „Wir entschuldigen uns“, dann ergreift mich ein ganz und gar unheiliger Zorn.
Allein die Formulierung demonstriert Verlogenheit, denn wenn ich eine Schuld wirklich einsehe, dann kann ich nur in Demut um Entschuldigung bitten und nicht in aller Arroganz und Selbstherrlichkeit micht selbst entschuldigen und damit auch demonstrieren, dass derjenige, gegenüber dem ich mich schuldig gemacht habe, offensichtlich so wertlos ist, dass ich ihm nicht einmal das Recht zuspreche, eine Entschuldigung zu gewähren oder womöglich auch zu verweigern.
Huuch, reg ich mich schon wieder so auf!! 🙂
Und ich wünsche mir so sehr, dass wenigstens all die Drehbuchautoren, Jounalisten oder sonstigen Schreiber, Sprecher, Lehrer ab und zu ihre Sprache mit Bastian Sick durchforsten.
Danke für Ihre Kompetenz,
herzlich, Karin Oehler
Sehr geehrte Frau Oehler, sehr geehrter Herr Sick,
genau Ihr Anliegen regt mich ebenfalls auf. Doch im Gegensatz zu Ihnen (und dem Duden), übe ich keine Nachsicht und ich reagiere auf die „Selbstentschuldigung“ meist ungeduldig oder wie oben beschriebener Professor.
Auch Politiker, die ja eigentlich Fachleute haben, die Reden schreiben, bitten den Bürger für gemachte Fehler nicht um Verzeihung, sondern entschuldigen sich gleich selbst. Wer ist schon dieser Krümel, dass er den Fehler der Torte entschuldigen könnte, so kommt es mir immer vor.
Journalisten scheinen eh wenig Ahnung zu haben und viele benötigten dringend Unterricht, bei Ihnen, Herr Sick. Das oft angesprochene Nackenhaar sträubt sich mir bei so manchem Artikel und nicht alles ist entschuldbar.
Mir ist gleich, was der Duden sagt; ich möchte selbst entscheiden, ob ich einen Fehler oder Ärgeres eines anderen entschuldige.
Herzliche Grüße,
Claudia Kranenburg
Wer sich selbst entschuldigt, wird demnächst beanspruchen, sich selbst vor Gericht frei sprechen zu können … (nur mal weiter gesponnen und die Logik übertragen).
Ich prophezeie jedenfalls, dass die Reihenfolge der sprachlichen Verkürzung fortgesetzt wird. Früher hat man um Entschuldigung gebeten hat, heute wird noch „Sorry“ oder bestenfalls „Tschuldigung“ gesagt, und bald wird man nur noch ein lautmalerisches „Oops!“ hören. Aber man muss ja heutzutage schon froh sein, wenn überhaupt jemand wenigstens ansatzweise einen Fehler eingesteht.
Ich finde ja, daß man bezüglich sprachlicher Präzision gar nicht haarspalterisch genug reagieren kann! Was dabei herauskommt, wenn man es nicht tut, daß sieht man ja gerade beim Thema „Entschuldigung“!
Früher bat man um Entschuldigung, danach entschuldigt man sich aufgrund von Sprachfaulheit einfach selber, heutzutage kommt oft gar nix mehr, sondern man kann schon froh sein wenn man vom Verursacher nicht auch noch blöd angeblökt wird nachdem man angerempelt wurde.
Nomen est omen: Kein Wunder, daß auch weite Teile des Volkes über-schuldet sind; hier ist das Sich-selbst-entschulden auch vielfach aus der Mode gekommen, auch und vor allem bei Staatsschulden.
Lieber Herr Sick, nun, das ist doch angenehm, wenn man sich gleich selbst entschuldigen kann. Was aber höchst unangenehm sein muss – dass man sich auch selbst erschrecken kann oder sogar muss. Das stelle ich mir gar erschröcklich vor.
„Ich habe mich erschrocken“, „er hat sich erschrocken“ etc.
Bin ich froh, dass ich das nicht selbst übernehmen muss, sondern dass ich mich zuerst erschrecken lassen und dann feststellen kann: „Ich bin erschrocken“.
Aber bei der Reaktion auf den reflexiven Gebrauch von „erschrecken“ wird es auch bei mir wieder reflexiv: ich ärgere mich über das Vordringen von norddeutschem Agglo-Slang in die Schriftsprache.
Viele Grüsse aus dem Süden, E. von der Schmitt