Donnerstag, 18. April 2024

Von Knäppchen, Knäuschen und Knörzchen

Abschied ist ein scharfes Schwert. Und Abschnitt ist ein hartes Brot. Der Rest ist Scherzl – oder Knust – oder Ränftl, oder wie man sonst noch zum Brotkanten sagt. Der Zwiebelfisch hat Brotreste gesammelt. Nun hat er so viel, dass er damit drei Jahre lang Enten füttern kann.

Brot ist eines der ältesten Kulturgüter überhaupt. Schon die alten Ägypter buken Brot und entdeckten das Geheimnis des Sauerteigs. Seitdem ist Brot zum Symbol für Speise schlechthin geworden. In der Bibel wird Brot als Gottesgeschenk beschrieben (himmlisches Manna), und seit dem letzten Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern einnahm, steht Brot für den Leib Christi.

So ist es nicht verwunderlich, dass das Brot auch in unserer Sprache einen besonderen Platz einnimmt. Es kommt zum Beispiel in Dutzenden von Redewendungen vor, man denke nur an „Trocken Brot macht Wangen rot“, „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ und „Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel piken“. Doch so richtig interessant wird das Brot für den Sprachforscher erst nach dem Verzehr, wenn von ihm nichts weiter übrig ist als ein – zumeist zähes oder hartes – Randstück (vom Brot natürlich, nicht vom Forscher). Dieses Randstück hat nämlich einen besonderen Namen. Einen Namen? Was red ich da! Dutzende Namen hat es!

Bereits im letzten Jahr begab ich mich auf die Suche nach regionalen Bezeichnungen für den Apfelrest und rief die Leser meiner „Zwiebelfisch“-Kolumne auf, mir ihren Ausdruck für den Apfelrest zu schicken. Mehr als 50 verschiedene Bezeichnungen kamen dabei zusammen. Einige Leser schickten unaufgefordert auch gleich das Wort für den Brotrest mit. Da ahnte ich, dass die Vielfalt der Brotrest-Wörter mindestens genauso groß sein müsse wie die der Apfelrest-Wörter.

Wenige Recherchen genügten, um festzustellen, dass der Brotkanten für Wortsammler ein gefundenes Fressen ist. In diversen Internet-Foren wird aufs Amüsanteste darüber diskutiert. Schulklassen haben sich im Rahmen von Projekten auf die Suche nach Brotrest-Wörtern begeben. Dialektforschende Institute haben Landkarten erstellt, auf denen die regionaltypischen Ausdrücke in sämtlichen Schreibweisen verzeichnet sind. Und immer wieder tauchen neue Varianten auf.

In Norddeutschland überwiegen „Kanten“ und „Knust“, von denen letzteres auf das mittelniederdeutsche Wort knūst zurückgeht, welches „knotiger Auswuchs“, „Knorren“ bedeutet. In Bayern herrschen „Ranftl“ (verwandt mit Rahmen und Rand) und „Scherzl“ vor, und in Sachsen sagt man „Rändl“ und „Ränftl“. In den rheinischen Regionen wird es besonders drollig, da hört man, wenn man nach dem Brotrest fragt, ein Knuspern und Knäuspern wie im Märchen: „Knörzchen“ wird er zum Beispiel in Hessen genannt, „Knieschen“ in Rheinland-Pfalz, „Knützchen“ am Niederrhein und „Knäbberchen“ im Siegerland. Auffällig ist, dass viele dieser Wörter mit „Kn“ beginnen. Der „Kn“-Anlaut ist in der deutschen Sprache bezeichnend für rundliche Gegenstände und Verdickungen. Knust, Knäppchen und Knörzchen gehören zur selben Wortfamilie wie Knauf, Knödel, Knobel, Knolle, Knopf, Knorpel, Knorren, Knospe, Knoten und Knubbel.

Mitunter wird ein Ausdruck sowohl für den Brotrest als auch für den Apfelrest verwendet, so wie beim Wort „Knust“, das im Allgemeinen den Brotrest bezeichnet, in Hamburg aber auch den Apfelrest. Bei anderen Begriffen (wie dem „Krüstchen“) herrscht Unklarheit darüber, ob damit nur der Brotrest oder nicht die gesamte Brotrinde gemeint ist.

Von der Wurst ist bekannt, dass sie zwei Enden hat. Das gilt aber nicht für die Wurst allein, sondern auch für das Brot. Während das erste Stück eines frischen Brotes meistens gern gegessen wird, bleibt das Endstück oft liegen. In einigen Gegenden wird daher zwischen einem „lachenden“ und einem „weinenden“ Ende unterschieden. So kennt man zum Beispiel im Münsterland die Ausdrücke „Lacheknäppchen“ und „Weineknäppchen“ für den vorderen und den hinteren Brotkanten, und im Oldenburger Raum den „Lacheknust“ und den „Brummeknust“.

Die Form des Brotrestes erinnert in gewisser Weise an ein anderes, ebenfalls sehr beliebtes „Endstück“: das menschliche Gesäß. Daher kursieren in einigen Regionen zärtlich-scherzhafte Ausdrücke für den Brotrest, die daneben auch für den Popo gebraucht werden, zum Beispiel „Föttchen“ im Rheinland, „Boppes“ im Westerwald und „Ärschl“ in Sachsen.

In diesem Zusammenhang darf eine Anekdote aus Österreich nicht fehlen. In Wien sagt man zum Brotrest „Buckl“ (= Buckel). Und zur Käsekrainer, der beliebten Bockwurst, sagt man auch „Eitrige“. Das klingt nicht besonders appetitlich, aber schmecken soll sie trotzdem. Zu Wurst und Brot gehört natürlich auch ein Bier, vorzugsweise aus der Dose. Ein sehr bekanntes Bier in Wien, das „Ottakringer“, benannt nach dem 16. Wiener Gemeindebezirk, wird so zum „sechzehner Blech“. Und so lautet die in bestem Wienerisch vorgetragene Bestellung am Wiener Würstelstand: „Heast, Oida, gib mir a Eitrige mit an Buckl und an sechzehner Blech!“ Für einen Nicht-Wiener eine mehr als rätselhafte Bestellung.

Eine häufig gestellte Frage lautet: Gibt es eine offizielle Bezeichnung für den Brotrest, die in allen Gegenden des deutschen Sprachraums gilt? Die Bäcker kennen das Wort „Anschnitt“, und daneben gibt es auch „Abschnitt“, beides sind Wörter der Hochsprache, doch sie sind nicht annähernd so klangvoll wie die mundartlichen Formen. Daher wird es ihnen kaum gelingen, die regionalen Varianten zu verdrängen, denn die sind bildhaft, liebevoll, ja geradezu zärtlich, so wie Knäppchen, Knärzi und Zipfeli. Das könnten auch Kosenamen für den geliebten Partner sein. Der wird ja gelegentlich auch „Lebensabschnittsgefährte“ genannt. Das klingt genauso unpersönlich wie Brotabschnitt. Wenn wir an unserem Lebensabschnittsgefährten knuspern, dann sagen wir doch lieber „mein Schatz“, „mein Herzi“, „mein süßes Mäuschen“ – so wie zum Brotrest „mein Scherzl“, „mein Knärzie“, „mein süßes Knäuschen“.

 

Region Bezeichnung
Schleswig-Holstein/Hamburg Knust/Knuust/Knuß
Niedersachsen/Bremen

 

Knust/Knuust/Knuuß/Knuz

Kanten

Knuf

Kniestchen/Knützchen

Tippchen

Mecklenburg-Vorpommern Knust

Kanten

Brandenburg/Berlin Knust

Kanten

Knippche

Gombel/Gompel

Nordrhein-Westfalen 

 

 

Ostwestfalen

 

Münsterland

 

 

 

 

 

Ruhrgebiet

 

 

 

 

 

 

Niederrhein

 

 

 

Rheinland

 

 

 

 

 

 

 

Siegerland

 

Sauerland

 

Knust

Knapp/Knäppchen

 

Tip/Tipp

 

Kanten

Kläppchen

Knabbel

Knietzchen

Macke/Mäckchen/Mäcksken

 

Knabbel/Knäbbelken/Knäppken

Knorke

Knorpe

Knüppchen/Knüppken

Knut

Utzelkäpp

 

Knetchen

Knust/Knut/Knute/Knützchen/Knützje

Kösken/Köschken

 

Kante/Kanten/Käntchen

Knippchen

Koosch/Köösche/Kööschje

Krüppchen

Kruste/Krüstchen

Kürchen/Kürsjen/Kürstchen

Föttchen (derb)

 

Knäbberchen/Knäppche

 

Knäppken

Knüpp

Hessen

 

 

Nordhessen

 

 

Südhessen

 

 

Knärzje/Knärtzsche

Krüstchen

 

Knorze/Knörzchen/Knerzchen/Knärnsche

Knistchen/Knüstchen

 

Endstück

Knorz/Knorzt/Knörzchen/Knörrnche

Krestche/Krüstje

Thüringen Feeze/Fietze

Kanten

Kniestchen/Kniezchen/Knützchen

Kopp/Köpple/Küppchen/Küppel/Küppele

Renftchen/Ränftchen

Rheinland-Pfalz

 

 

 

 

 

 

Knärz/Knärzche/Knärzel(che)/
Knarzel(che)Knärzi/Knärzje/KnärzcheKnorze/KnörzjeKnirzel/Knirzche

Knaus/Knause/Knäusche/Knaisel/
Knaische/Knaisje

Kniesche

Kneppche/Knippche/Kneppel

Kruste/Krüstje

Kruscht/Kreschtche/Krischtche/
Kreschdel/Krischdel

Kurscht/Kürschtsche

Korscht/Körschtche

Karscht/Kärschtche/Kierschtche

Schäbbelsche/Schäbbelchen

Boppes (derb)

Sachsen-Anhalt Kanten

Rungsen

Sachsen

 

 

 

 

 

Rändl/Rindl

Randkandn

Ramftl/Rampftl/Rämpfdl/Ränftel/
Ränftl/Ränftchen

Renft/Renftl/Renftel/Rempftel/Rempftl

Rungsen

Ärschl/Ärschel (derb)

Saarland Kniesje/Knieschen/Kneisje/Kneischen/
Knüsje/KnüschenKoscht/KorschtBäätsch
Baden-Württemberg

 

Schwaben

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Baden

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Knaus/Knäusle/Knäuschen

 

Endle

Eck/Ecke

Giggl/Giggale

Kante/Käntle

Gnäusle/Knäusel/Kneisle/Knoisle

Kneidel/Kneidele

Knörzchen/Knörzerle/Knörzl/Knötzl/
Knerzl/Knärtzele

Köschken

Kruste

Käppele/Küppele

Ranka

Riebel/Riabel/Riebele/Riebale

Ränkel/Renkl/Rengele

Rempfdle/Rempftchen/Renftl

Rände

Roiftle

Storzl

 

Gnuscht

Knecks

Gnaisle/Kneisl

Gniesle/Knissl/Knissli/Kniesli

Knörbl

Knippche

Knerzl/Knärzl/Knärtzje

Knork

Knorst

Knuusä/Knussel/Knäusli

Awendel

Ärschle (derb)

Chnüssli

Oschnitt

Ranfte/Ränftl/Rämpfli

Riebele

Reifdle/Roiftle

Bayern

 

 

Oberfranken

 

 

 

 

 

Mittelfranken

 

 

 

 

Unterfranken

 

 

 

 

 

Oberpfalz

 

 

 

Schwaben

 

Ranft/Ranfdl

Scherzl

 

Baggerla

Gnaerzla/Gnerzla/Knätzla

Koebbla/Köbberla/Kopperla/Kübbele/
Kübbl/Küppel

Rankerl/Rankerla

Rempfterla

 

Gnaerzla/Gnäddsla/Gnötzla/Knätzla

Riefdla/Rieftla/Rieftle

Rendala

Sterzl/Stazzla

 

Kantn

Knurz/Knorz/Gnurz/Gnorz/Knörzle

Knärzje

Knübbele/Knübberle

Kipf/Kipfchen/Kipfle/Kipfla

 

Rampfla/Rampferl

Randl

Renkerl

Sterzl

 

Giggl/Gickl/Giggel/Giggele/Giggerle

Kickel/Kiekerle

Schweiz

 

Thurgau

 

 

Basel

 

 

 

 

Aargau

 

Solothurn

 

Zürich

 

 

 

 

 

St. Gallen

 

Luzern

 

Bern

 

 

Aaschnitt

 

Aamündli

Gupf

 

Grepfli/Gröpfli

Muger/Mugerli

Fuudi

Gupf

 

Chnuschperli/Knusperli

 

Möckli

 

Ahau/Ahäuel/Ahäuli

Bödel

Güpfli

Ribel

Zipfeli

 

Chrüschtli

 

Mögerli/Muggerli

 

Mürgu/Mürgel

Aahou

Butti

Chäppi

Liechtenstein Bödäli
Österreich Raftl

Scherzel/Scherzl/Scherzal/Scherzerl

Schächzl

Buckel/Buckl/Buggl

Ostpreußen Pend/Pendt/Pent

Schenutt/Schnutt

Schlesien Christel/Kristel/Kristl

Rampfla/Rampftla

Ränftel

Kantel

Krunka

Sudetenland Klaaberranftle
Rumänien

 

Siebenbürgen

 

Banat

 

 

Dutz

 

Korscht

Luxemburg Knaus

 

(c) Bastian Sick 2006


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.

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