Sonntag, 20. Oktober 2024

Der Ganzkörperdativ

Der Herbst ist da, schon jagen Novemberwinde über das Land, und mit jedem Tag wird es kälter. Friert es Sie auch schon? Oder friert es Ihnen? Und wenn ja, wo? An den Händen – oder an die Hände? Der Herbst bringt nicht nur Kälte, sondern auch manches sprachliche Problem.

Kürzlich wollte ein Leser aus der Prignitz (das liegt im nordwestlichen Brandenburg) von mir wissen, wie es denn nun richtig heiße: „Mich frieert an den Füßen“ oder „Mich frieert an die Füße“? Da musste ich erst einmal die Heizung höher stellen und anschließend lange nachdenken. Diese Frage hat es nämlich in sich, und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens scheint man in der Prignitz ausdauernder zu frieren als anderswo, denn die Schreibung mit doppeltem e lässt auf eine zweisilbige Aussprache schließen. Während man in den meisten Gegenden Deutschlands nur einsilbig friert, wird das Frieren in Brandenburg offenbar zu einer längeren Sache, die man sich so richtig auf der Zunge, besser gesagt: unter den Zehen zergehen lässt. Um es auf eine einfache Bauernregel zu bringen: Wenn der Hengst im Stalle wiehert, der Bauer in der Stube frieert.

Zweitens ist die Alternative bei der Fußbehandlung bemerkenswert. „Mich friert an den Füßen“ ist zweifellos die standardsprachlich richtige Form. Dass es jemanden auch „an die Füße“ frieren kann, habe ich noch nicht gehört, aber das muss nichts heißen, denn ich stehe gerade erst am Anfang meiner Entdeckungsreise in die Welt der regionalsprachlichen Wunder. Wer im Fall des Frierens seine Füße zu einem Akkusativ verkrümmt, tut dies möglicherweise in Analogie zum Verb „klopfen“, da der Nikolaus bekanntlich sowohl „an der Tür“ wie auch „an die Tür“ klopfen kann. Das Erste geschieht im Dativ und auf die Frage „Wo klopft es?“, das Zweite im Akkusativ und auf die Frage „Wohin/woran wird geklopft?“ In beiden Fällen lautet die Antwort gleich, und zwar „Herein!“, denn den Nikolaus lässt man wohl kaum draußen vor der Tür stehen.

Da man beim Frieren aber nur die Frage nach dem Wo und nicht nach dem Wohin stellen kann, besteht keine Notwendigkeit, die kalten Füße in den vierten Fall zu setzen.

Anstelle der Frage nach den Füßen hätte ich – und das ist der dritte interessante Aspekt des Prignitzer Fußfrierens – eine andere Frage erwartet, und zwar, ob es mich oder ob es mir an den Füßen friert. Für die meisten Deutschen stellt sich nämlich nicht die Frage, in welchem Fall ihre Füße stehen, wenn sie frieren, sondern in welchem Fall sie selbst dabei stehen, so als im Ganzen oder auch nur an einzelnen Körperteilen betroffene Menschen.

Und hier wird die Sache richtig spannend: Wenn ich persönlich im Nominativ friere, kann ich es unpersönlich mit „mich friert“ oder „es friert mich“ ausdrücken – und stehe dabei im Akkusativ. Wenn nun aber nur ein bestimmter Teil von mir betroffen ist (zum Beispiel meine Nase), so stehe ich – als Besitzer dieser Nase – im Dativ: Mir friert die Nase. Die Sprachwissenschaft nennt dies den „Pertinenzdativ“, vom lateinischen Wort pertinere, das „betreffen“ bedeutet. Man könnte also auf gut Halbdeutsch von einem Betroffenheitsdativ sprechen. Bei „Oh, mir tun die Augen weh, wenn ich Bayern München seh“ ist die Sache ganz ähnlich: Zwar geht es zunächst mal um die Augen, die stehen daher im ersten Fall, aber ich als Betroffener komme auch noch vor, und zwar im Dativ. Es geht schließlich nicht um irgendwelche Augen, sondern um meine. Und die tun nicht irgendjemandem weh, sondern mir. Ich muss beim Hingucken diese furchtbaren Schmerzen erdulden, mir widerfährt es, ich bin also nicht nur an den Augen betroffen, sondern im Grunde mit allem, mit Haut und Haar, mit dem gesamten Körper. Daher ist dieser Pertinenzdativ eigentlich ein Ganzkörperdativ.

Und der kann überall dort auftreten, wo es kneift und drückt, wo es zwackt und zwickt und wo es gruselt und graust. Statt „mich kitzelt es in der Nase“ oder „mich zwickt es im Bauch“ kann es auch „mir kitzelt es in der Nase“ oder „mir zwickt es im Bauch“ heißen, und neben „mich ekelt davor“ ist auch „mir ekelt davor“ möglich. Beim Grauen ist der Dativ sogar die gebräuchlichere Form. Zwar wäre es nicht falsch gewesen, wenn Margarete zu Faust gesagt hätte: „Heinrich! Mich graut’s vor dir“, doch Goethe ließ sie lieber im Dativ erschaudern und schuf mit „Heinrich! Mir graut’s vor dir!“ eines der berühmtesten Zitate mit einem Ganzkörperdativ.

Ganzkörperliche Betroffenheit liegt auch beim Schwanen vor: Mir schwant Übles. Und beim Denken: Mir fällt gerade nichts ein, doch, warte, mir kommt’s gleich … Auch wenn ich mir ein kühles Pils gönne, haben wir es mit einem Ganzkörperdativ zu tun, denn das Pils ist ja nicht nur für die Kehle bestimmt, da haben schließlich alle Organe was davon, inklusive der Leber.

Das Faszinierende am Frieren ist, dass wir es in (fast) allen Fällen können: im ersten Fall („ich friere“), im dritten Fall („mir friert’s“) und im vierten Fall („mich friert’s“). Landschaftlich ist auch die Formulierung „Mich frieren die Füße“ anzutreffen. Nicht nur in der Prignitz kann man kalte Füße bekommen. Der Winter naht, das große Frieren steht uns allen erst noch bevor. Und wer nicht „an die Füße“ frieren will, der muss sich eben rechtzeitig was Warmes an die Füße ziehen.

(c) Bastian Sick 2007


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.

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