Das berühmte Fliewatüüt konnte fliegen, fahren und schwimmen. In der Fantasie ist vieles möglich, in der Sprache aber nicht. Da können Tiere nicht gehen und Ballone nicht fliegen. Ein paar Gedanken zu den seltsamen sprachlichen Gesetzen der Fortbewegung.
Langsam rollt der Zug aus dem Bahnhof, gewinnt an Fahrt, lässt Häuser und Straßen hinter sich und jagt alsbald über die niedersächsische Tundra. Da meldet sich eine gefürchtete Stimme über Lautsprecher: Der Zugführer spricht! „Meine Damen und Herren“, sagt er, „unser Zug hat Hannover Hauptbahnhof mit einer Abgangsverspätung von sieben Minuten verlassen.“ Bei diesem Wort horche ich auf: Abgangsverspätung. Die meisten Menschen denken beim Wort „Abgang“ an etwas anderes: an den Tod oder ans Theater, aber nicht unbedingt an die Deutsche Bahn. Im Wörterbuch findet man allerdings den Vermerk, dass die Abfahrt von Zügen fachsprachlich „Abgang“ genannt wird. Es bleibt die Frage, wieso der Zugführer mit den Reisenden in seiner Fachsprache reden muss. Vielleicht glaubt er, den Unmut über die Verspätung durch Vorspiegelung fachlicher Kompetenz beschwichtigen zu können.
Übrigens können nicht nur Züge abgehen, sondern auch Schiffe. Und nicht zu vergessen die Post, die geht ja auch bekanntlich ab. Im Unterschied zu Preisetiketten auf CD-Hüllen: Die gehen nie richtig ab.
Auch die Abfahrt von Schiffen wird also Abgang genannt. Und wenn das Schiff den Hafen verlässt, spricht man auch vom Auslaufen. Erst geht das Schiff, dann läuft es. Manchmal läuft es auf ein Riff, und anschließend geht es wieder, nämlich unter. Die Seefahrt ist kein Kommen und Gehen, sondern ein Gehen und Laufen.
Luftballons können nur fliegen, solange sie klein sind. Wenn sie zu richtig großen Ballonen ausgewachsen sind, dann fliegen sie nicht mehr, sondern fahren. Wer einen Ballonfahrer als Ballonflieger bezeichnet, handelt sich unter Garantie eine Korrektur inklusive kostenloser Belehrung ein. Manche Ballonfahrer scheinen nur darauf zu warten, dass irgendein Laie ihnen eine Frage stellt, die das Wort „fliegen“ enthält, auf dass sie ihn wortreich über den Unterschied zwischen „fliegen“ und „fahren“ aufklären können.
Der Grund dafür, dass Ballone fahren, liegt in der Seefahrt. Die frühe Luftfahrt orientierte sich an der Seefahrt; entsprechend wurde das Vokabular von der Seefahrt auf die Luftfahrt übertragen. Beim ersten Fluglinienverkehr kamen noch keine Flugzeuge, sondern Luftschiffe zum Einsatz. Während Ballone also fahren, treten Autos als Läufer an. Eigentlich ist es der Motor, der läuft, aber das überträgt man gern auf das gesamte Automobil und stellt — nicht nur über den Käfer — fest: Er läuft und läuft und läuft. (Über so manchen unwirtschaftlich konstruierten Wagen lässt sich außerdem konstatieren: Er säuft und säuft und säuft.) Obwohl mit Autos regelmäßig Rennen veranstaltet werden, würde man niemals sagen, das Auto sei gerannt. Früher waren es die Pferde, die beim Wagenrennen rannten. Heute rennt beim Rennen niemand mehr. Höchstens ein paar Zuschauer, die es eilig haben, zur Toilette zu kommen. Rennfahrer werden in der Fachsprache ja auch Piloten genannt, aber fliegen tun sie nicht. Nur in seltenen, meist tragisch endenden Fällen hebt ein Rennwagen von der Piste ab und gleitet für einen kurzen Moment durch die Luft.
Die Sprache steckt voller Ungereimtheiten, gerade das macht sie so spannend und verführerisch. Wer hinter ihre Geheimnisse kommen will, muss tief in sie eindringen. Das Wort „laufen“ hat unterschiedliche Bedeutungen, die sich zum Teil sogar widersprechen. Einerseits definieren wir laufen als schnelle Fortbewegung: Beim 100-Meter-Lauf wird nicht getrödelt, sondern gerannt. Wenn Babys lernen, sich auf ihren wackeligen Beinchen fortzubewegen, dann sagt man, dass sie laufen lernen. Laufen kann auch einfach nur „zu Fuß gehen“ bedeuten. „Soll ich dir ein Taxi rufen?“ — „Nein danke, ich laufe lieber!“ Und beim Wandern kann man sich die Füße plattlaufen. Nirgends offenbart sich das Paradoxon zwischen gehen und laufen schöner als in dieser uralten Wendung. Frage: „Und, wie läuft’s so?“ Antwort: „Danke, es geht!“
Für Auslandsaufenthalte, die nur ein paar Wochen dauern, empfiehlt sich die Anreise mit dem Auto, der Bahn oder dem Flugzeug: „In den Sommerferien fahren wir nach Italien.“ Bei längeren Auslandsaufenthalten kann man aufs Fahren verzichten und stattdessen gehen: „Nach meinem Abi gehe ich für ein Jahr in die USA.“
Immer wieder musste der Mensch im Vergleich mit der Fauna feststellen, dass er nur mit beschränkten Gaben ausgestattet ist. Irgendein Tier kann immer irgendetwas, das der Mensch entweder nur mäßig oder gar nicht kann. Viele Tiere können schneller laufen als der Mensch, andere können schneller schwimmen, besser klettern oder länger tauchen. Und einige können fliegen. In zwei Fällen allerdings hat sich der Mensch ein Monopol gesichert. Zwei Dinge gibt es, die nur er kann und kein Tier. Sprechen gehört nicht dazu, denn es gibt einige sprechende Papageienarten. Auch die Fähigkeit zu denken stellen wir bei Tieren nicht grundsätzlich in Abrede. Was im Unterschied zu uns Menschen kein Tier kann, das ist erstens: essen — und zweitens: gehen. Tiere essen nicht, sondern fressen, und Tiere können auch nicht gehen. Eher lassen wir es zu, dass Uhren oder Züge gehen. Bei Tieren sind wir unerbittlich. Laufen ja, aber gehen? Nein!
Der Reichtum unserer Sprache offenbart sich auch dann, wenn es darum geht, die Fortbewegung von Tieren zu beschreiben: Löwen trotten, Giraffen schreiten, Elefanten trampeln, Pfauen stolzieren, Kaninchen hoppeln, Katzen schleichen, Käfer krabbeln, Enten watscheln und Robben robben. Und wenn Fliegen hinter Fliegen fliegen, fliegen Fliegen Fliegen hinterher. Pferde können zwar „Schritt gehen“, „Pass gehen“ und „Tölt gehen“, bisweilen können sie auch durchgehen, aber man würde niemals sagen: „Schau mal, da drüben geht ein Pferd!“ Auch bei Hunden ist das Gehen nur in Verbindung mit einem Hauptwort möglich, nämlich wenn sie Gassi gehen. Das reine Gehen ist dem Menschen vorbehalten.
Einem inneren Drang folgend, erhebe ich mich von meinem Platz. „Wo willst du hin?“, fragt mich meine Begleitung. „Zur Toilette!“, erkläre ich. Und während ich mich durch den vollbesetzten Großraumwagen schlängele, denke ich darüber nach, wie fantastisch es doch ist, dass ich im selben Moment fahren und gehen kann: einerseits nach Hamburg, und gleichzeitig zur Toilette. Dort wiederum kann ich mich ungestört gehen lassen und einen fahren lassen. Wie wunderbar vielseitig unsere Sprache doch ist!
(c) Bastian Sick 2007
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.