Eine Freundin hat zum Geburtstag ein Kochbuch bekommen mit dem Titel „Die Küche des Orient“. Verwundert fragte sie mich, ob es nicht „des Orients“ heißen müsse. „Das ist doch ein weiterer Beleg für das Verschwinden deines geliebten Genitivs!“ Ich beruhigte sie: Bei männlichen und sächlichen Namen, die im Genitiv stehen, ist es nicht zwingend erforderlich, ein Genitiv-s anzuhängen, wenn ihnen ein „des“ vorausgeht. Ob es „die Küche des Orient“ oder „des Orients“ heißen muss, hängt davon ab, ob man „Orient“ als ein normales Hauptwort oder als ein Namenwort auffasst. Beides lässt sich vertreten. Dasselbe gilt für nicht alltägliche Fremdwörter wie „Cashflow“ oder „Arrondissement“, die im Genitiv ein „s“ erhalten können, aber nicht müssen. Bei der „Kulturgeschichte des Kaffee“ würde ich indes zu „des Kaffees“ raten, da das Wort „Kaffee“ allein schon aufgrund seiner verdeutschten Schreibweise nicht länger den Charakter eines Fremdworts hat.
Beispiele wie „die Küche des Orient“ oder „die Kommandeure des neuen China“ sind keine Belege für einen aktuellen Rückgang des Genitivs. Denn der kommt immer noch ausreichend im gebeugten Artikel „des“ zur Geltung. Der Wegfall des „s“ am Wortende ist vielmehr das Ergebnis einer Entwicklung, die schon vor 200 Jahren einsetzte. Ein berühmtes Beispiel liefert uns Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werthers“, das bei seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1774 noch ein „s“ am Ende aufwies. 50 Jahre später wurde das Werk in einer Jubiläumsausgabe unter dem Titel „Die Leiden des jungen Werther“ herausgebracht – ohne Genitiv-„s“. Auf Wikipedia steht zwar zu lesen, das Genitiv-„s“ sei bereits bei der Überarbeitung des Romans im Jahre 1787 weggefallen. Das ist jedoch nicht richtig. Goethe hatte zwar zahlreiche Änderungen an Schreibweisen und Formulierungen vorgenommen und inhaltlich einiges ergänzt, aber das Genitiv-s beim Werther hatte er damals noch gelassen. Stattdessen strich er den bestimmten Artikel „die“ und verkürzte den Titel zu „Leiden des jungen Werthers“. Erst 1825 fiel das Genitiv-„s“ weg. Mit dieser Verkürzung trug Goethe dem Sprachwandel seiner Zeit Rechnung: Die starke Beugung des Eigennamens hinter dem gebeugten Artikel „des“ war im 19. Jahrhundert mehr und mehr aus der Mode gekommen, da man sie als hyperkorrekt und letztlich unschön empfand.
Diese Auffassung hat sich bis heute gehalten. Mein Freund, der erfolgreiche Musiker Christian Bruhn, legt sogar großen Wert darauf, dass man „die Lieder des Christian Bruhn“ und nicht „des Christian Bruhns“ schreibt, da er oft genug fälschlicherweise als „Herr Bruhns“ angesprochen worden ist. „Ich freue mich über jeden schönen Genitiv“, sagte er mir mal. „Aber nicht bei meinem Namen, da führt er nur zu Missverständnissen.“
In einem Internetforum stellte ein Schüler, der sich aufs Abitur vorbereitete, die Frage, ob es denn nun korrekt „die Leiden des jungen Wärters“ oder „des jungen Wärter“ heißen müsse. Ein anderer antwortete ihm: „Wenn es sich dabei um einen Gefängniswärter handelt, ist die Sache eindeutig. Ob du damit das Abi schaffst, ist allerdings weniger eindeutig.“
darüber hatte ich gerade gestern sinniert. Der Artikel kommt mir wie gerufen.