Sonntag, 20. Oktober 2024

Die unvorhandene Mehrzahl

Gerüchte, Spekulationen, Unterstellungen – sie sind der schlimmste Alptraum eines jeden Prominenten. Es gibt nur eines, was noch schlimmer wäre: das Gerücht, die Spekulation, die Unterstellung. Ein Plädoyer gegen schwammige Plurale und für die Kraft der Einzahl.

Ein erpresserischer Innensenator, ein kompromittierter Bürgermeister, ein zur Miete wohnender Justizsenator und angebliche Zeugen für vermeintliche Liebesgeräusche. Die Gerüchteküche brodelte, was das Zeug hielt, aus allen Töpfen blubberte und spuckte es, weißer Schaum stemmte die Deckel hoch, zäher Brei troff auf die Herdplatte, wo er laut zischend verbrannte. Welch ein gefundenes Fressen für die Presse, die gar nicht hinterherkam, all die vielen Spritzer einzufangen und die Schliere in Tüten abzufüllen.

Das las sich dann etwa so: „Gerüchte, er habe ein homosexuelles Verhältnis mit dem Justizsenator, wollte der Bürgermeister nicht kommentieren.“ Abgesehen von dem moralischen Problem haben wir es hier auch mit einem stilistischen zu tun. Der Satz beginnt mit dem Objekt, und dieses Objekt wird im anschließenden Einschub näher erklärt. Das ist sprachlich zwar nicht elegant, grammatisch* aber korrekt. Doch sehen wir uns dieses Objekt und seine Bestimmung einmal näher an: „Gerüchte“ heißt es, ein Wort in der Mehrzahl. Und wie lauten diese mehreren Gerüchte? Da wäre zum einen: Er habe ein homosexuelles Verhältnis mit seinem Justizsenator. Aha. Und zum zweiten? Nix mehr. Schade eigentlich.

Wir haben es hier mit einem Lieblingsphänomen der deutschen Schriftsprache zu tun: dem unvorhandenen Plural. Er taucht überall dort auf, wo vermutet, behauptet, unterstellt und spekuliert wird.

„Befürchtungen, dass sie durch den heißen Auftritt ihrem Image geschadet habe, hat die Blondine offenbar nicht“, war in einem Text über Britney Spears zu lesen, nachdem sie von Madonna in die Wunder des öffentlichen pseudo-lesbischen Lingualverkehrs eingeführt worden war. Warum sich der Verfasser nicht getraut hat, „die Befürchtung“ zu schreiben, wenn er doch nur eine nennt, das bleiben seine Geheimnisse.

Vielleicht wählte er den Plural in der Annahme, der Aussage damit mehr Gewicht zu verleihen: Je mehr er die arme Spears befürchten lässt, desto mehr beeindruckt er die Leser. Doch das ist ein Trugschluss. Wenn es nicht gar Trugschlüsse sind.

Der Plural verstärkt nicht, er verdichtet nichts, er macht die Befürchtung nicht fürchterlicher. Im Gegenteil – der Plural schwächt ab, er entzieht der Befürchtung das Beklemmende, macht sie beliebig. Hier wird die Möglichkeit verschenkt, mit weniger mehr zu erreichen.

„Der Schriftsteller bestreitet die Vorwürfe, in den sechziger und siebziger Jahren für die Stasi gearbeitet zu haben“. Der Plural wäre verständlich, wenn Vorwurf eins lautete, der Schriftsteller habe in den sechziger Jahren für die Stasi gearbeitet, und Vorwurf zwei, er habe das, starrsinnig wie Intellektuelle nun mal sind, in den siebziger Jahren immer noch getan. Gemeint ist aber bloß ein einziger Vorwurf. „Forderungen nach einem direkten Rückzug der Koalitionstruppen schloss sich Fischer nicht an.“ Auch hier haben wir es nur mit einer einzigen Forderung zu tun; nämlich der nach einem Rückzug, dennoch steht das Objekt im Plural.

„He, Zwiebelfisch, nun werde mal nicht haarspalterisch“, erschallt da der Ruf (oder sind es Rufe?) von irgendwoher, „die Mehrzahl soll doch nur verdeutlichen, dass die Forderung von mehreren Personen gestellt wurde.“ Eine interessante These. Die vielen geheimnisvollen Quellen verstecken sich quasi im Numerus des Objekts! Es verschmilzt die Botschaft mit ihren Rufern. Das ist subversiver Journalismus in Höchstform.

Bemühen wir die Logik: Jemand setzt ein Gerücht in die Welt, eine zweite Person trägt es weiter, wie viele Gerüchte haben wir? Zwei? Falsch. Es sei denn, der Inhalt wurde verändert. Gegenprobe: Im Stadion bricht Panik aus. 20.000 Personen rennen zum Ausgang. Wie viele Paniken haben wir? Selbstverständlich können diverse Gerüchte über den Lebenswandel einer Person kursieren, doch hinter der Aussage „Er hat ein homosexuelles Verhältnis mit dem Justizsenator“ verbirgt sich nicht mehr als ein einziges Gerücht. Und das ist auch genug so. Denn ein einzelnes Gerücht kann mehr Schaden anrichten als eine ganze Batterie von Gerüchten. So wie die Last einer einzelnen Schuld mehr wiegen kann als diverse Schulden.

Es gibt eine Zeichnung von A. Paul Weber mit dem Titel „Das Gerücht“. Darauf ist ein schlangenartiges Wesen mit einer menschenähnlichen Fratze zu sehen, das durch eine monotone Häuserschlucht gleitet. Aus allen Fenstern fliegen ihm kleinere Schlangen zu, heften sich an seinen Leib und lassen es zu einem Grauen erregenden Monstrum anwachsen. Hätte Weber diese Allegorie nicht „Das Gerücht“ genannt, sondern „Gerüchte“, wäre die Hälfte ihrer Wirkung verpufft. Das Beklemmende, Furchteinflößende liegt oft gerade in der Einzigartigkeit, im Einzelnen, in der Einzahl.

* „grammatisch“ ist korrekt, „grammatikalisch“ ist heute seltener gebräuchlich. Al/b/p/traum dürfen Sie mit „p“ oder „b“ schreiben, ganz wie Sie wollen, beide Formen sind zulässig. Der SPIEGEL favorisiert die alte Form mit „p“.

(c) Bastian Sick 2003


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.

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