Heute hieß es in einer Ankündigung im Internet: »Erfolgsautor Bastian Sick liest aus seinen letzten Veröffentlichungen.« Das stimmte mich nachdenklich. Ein paar Leser werden womöglich glauben, ich habe das Schreiben eingestellt. Ein paar Kritiker werden es womöglich hoffen. Doch wie heißt es so schön? Wer zuletzt lacht, den beißen die Hunde.
Wenn vom »Letzten« die Rede ist, klingt schnell etwas von Abschied und Ende mit: das letztes Abendmahl, die letzten Worte, der letzte Wunsch, der letzte Wille. Gemeint waren in der Meldung aber nur die jüngsten Veröffentlichungen. Von meinen letzten bin ich hoffentlich noch um einiges entfernt. Zwar kann »das Letzte« auch die Bedeutung »das Neueste« haben, doch sollte man sich vor dem Gebrauch vergewissern, dass es nicht missgedeutet werden kann. Manche nehmen es mit der Unterscheidung nämlich sehr genau und verstehen unter dem »Letzten« ausschließlich den Abschluss.
Eine ältere Leserin erinnerte sich an ein Erlebnis aus ihrer Studienzeit vor rund 50 Jahren. Damals sprach einer ihrer Kommilitonen den Professor auf etwas an, das dieser in seiner »letzten« Vorlesung gesagt habe. Darauf entrüstete sich der Professor und stellte klar, dass seine jüngste Vorlesung noch längst nicht seine letzte gewesen sei.
Ein ähnlicher Fall ist mir aus meiner Schulzeit in Erinnerung geblieben. Gerade hatte uns unser Geschichtslehrer gebeten: »Schreibt auf, was wir in der letzten Stunde durchgenommen haben!«, da erhob sich der Frechste von uns von seinem Platz und machte Anstalten, zur Tür hinauszugehen. »Was ist los? Wo willst du hin?«, fragte der Lehrer. Darauf der Schüler: »Wenn die vergangene Stunde die letzte war, dann kann das nur bedeuten, dass die Schulzeit vorbei ist. Also können wir gehen!« Es gab lautes Gelächter einerseits und einen Eintrag ins Klassenbuch andererseits, denn das letzte Wort haben bekanntlich immer die Lehrer.
Bei den alten Germanen hieß das »Letzte« noch »last« und bedeutete »das Matteste«. Das »laste« Licht des Tages war das matteste, das schwächste Licht. Und da die Worte eines Sterbenden oft seine schwächsten, seine mattesten sind, nannte man sie seine »lasten«, das heißt letzten Worte. In frühmittelalterlichen Zeiten wohnte dem »Letzten« also etwas Schwaches, Sterbendes inne. Diese enge Bedeutung wurde im Laufe der Jahrhunderte deutlich erweitert. So ist die neunte Sinfonie Beethovens zwar seine letzte (vollendete), gilt aber keinesfalls als seine schwächste oder matteste – ganz im Gegenteil.
Letztlich ist das Letzte ein weit gefasster Begriff, der zur Bildung zahlreicher Redewendungen beigetragen hat. Zum Beispiel »der Weisheit letzter Schluss«, »du raubst mir den letzten Nerv«, »er pfeift aus dem letzten Loch« und »er gibt dafür sein letztes Hemd«. Nicht zu vergessen die biblische Prophezeiung »die Letzten werden die Ersten sein«, gefolgt von der schmerzhaften Jäger-Erkenntnis »den Letzten beißen die Hunde«. Und wenn man etwas gerade noch rechtzeitig geschafft hat, dann heißt es »auf den letzten Drücker«. (Dies bezieht sich auf den Türgriff an alten Eisenbahnwaggons. War der Zug bereits losgefahren, musste man sich sehr beeilen, um den letzten Türdrücker des letzten Waggons zu fassen zu bekommen.)
Nach der letzten Ölung, dem letzten Atemzug, dem letzten Geleit und dem letzten Gericht ist tatsächlich Schluss. Wer diese Stationen absolviert hat, wird nicht wieder von sich hören lassen. Doch dem berühmten »letzten Schrei« (»dernier cri«) werden noch viele weitere Schreie folgen, und wer sich »beim letzten Mal« amüsiert hat, der tat dies nicht zwangsläufig »zum letzten Mal«.
Dass das Letzte nicht unbedingt einen Schlusspunkt darstellen muss, sondern genauso für das vergangene Mal, das vor Kurzem Erlebte stehen kann, beweisen die Wortbildungen »letztens« und »letzthin«, zwei Synonyme für »kürzlich« und »neulich«.
Berichterstattung sollte stets um Klarheit bemüht und unmissverständlich sein. Wenn in einer Zeitung von der »letzten Aufführung der Zauberflöte« die Rede ist, sollte auch sicher sein, dass es sich um die Abschlussvorstellung handelte. War es hingegen nur die jüngste Aufführung innerhalb einer noch Monate dauernden Spielzeit, dann sollte sie auch so genannt werden. In der Sprache Luthers war das »Jüngste« zwar noch gleichbedeutend mit dem »Letzten«, wie man am »jüngsten Tag« und am »jüngsten Gericht« erkennen kann. Heute aber versteht man unter den »jüngsten Ereignissen« nicht das Ende der Welt, sondern das, was sich gerade zugetragen hat.
An einer Stelle meines Manuskriptes hatte meine Lektorin den Hinweis »siehe letzte Seite« an den Rand geschrieben, und ich blätterte zur letzten Seite vor, auf der vieles stand, nur nicht das, worauf sie Bezug nahm, denn sie meinte die »vorige Seite«. In der »Tagesschau«-Redaktion wird stets darauf geachtet, dass die Sprecher »in der vergangenen Woche« sagen und nicht etwa »in der letzten Woche«. Hier wird es mit der Genauigkeit vielleicht etwas zu genau genommen, denn im Unterschied zur »letzten Seite« besteht bei der »letzten Woche« keine Verwechslungsgefahr.
Die Werbung verwendet gerne Superlative, zu denen auch »das Letzte« zählt. So weiß ein Reisebüro angeblich, wo »das letzte Paradies« zu finden sei, ein Tortenhersteller preist seine aus Sahne gewonnene »letzte Versuchung«, und jeder Autofahrer schaut noch einmal auf die Tankanzeige, wenn er liest: »Letzte Tankstelle vor der Grenze«. Doch auch hier kann es zu Missverständnissen kommen. Eine Therme in Bayern bewirbt ihre Tauchkurse mit den Worten : »Tauchen – eines der letzten Abenteuer für Jung und Alt«. Da fragt man sich, ob diese Werbung nicht eher eine Warnung ist.
Nicht zuletzt hat das Letzte außer dem definitiven Schlusspunkt und dem Vorangegangenen noch eine dritte Bedeutung, die das ursprüngliche »Schwächste« und »Matteste« aufgreift. Diese erklärt sich am besten mit einem Witz:
Sagt ein Leser zum Autor: »Ich habe Ihr Buch gelesen.« Fragt der Autor: »Das letzte?« Erwidert der Leser: »Fand ich auch!«
Dank an Elisabeth Schiffer