Mittwoch, 27. März 2024

Nach oben hinauf und von oben herunter

„Holladi-ho!“, klingt es von den Bergen hinab. Oder klingt es herab? Wie man in den Wald ruft, so schallt es hinaus. Oder schallt es heraus? Erfahren Sie am Beispiel einer nie gezeigten Folge der Kultserie „Heidi“, wie schwer sich manche Menschen mit dem Hin und Her in der deutschen Sprache tun.

Heidis Welt sind die Berge, das wissen wir alle, denn das haben uns Gitti und Erika oft genug um die Ohren gejodelt. Die beliebte japanische Zeichentrickserie hat Generationen von Fernsehzuschauern beglückt. Und so ist die Geschichte des kleinen Mädchens, das bei seinem Großvater auf der Alm aufwächst, bis heute lebendig geblieben und einem großen Publikum ans Herz gewachsen. Eine Folge allerdings bekamen wir nie zu sehen, da sie nie fertig gestellt wurde. Unsere Mitarbeiter haben in jahrelanger, akribischer Recherchearbeit dieser unfertigen Folge nachgespürt und sie tatsächlich gefunden. Es handelt sich um die Folge 46: Clara ist bei Heidi zu Besuch, und ihre Gouvernante, das gestrenge Fräulein Rottenmeier, gibt penibel Acht, dass Clara sich nicht zu viel zumutet. Wir sind überaus glücklich, Ihnen heute exklusiv die Eingangsszene dieser nie gezeigten Folge wiedergeben zu dürfen:

Fräulein Rottenmeier: Guten Morgen, Adelheid, warum bist du denn heute schon so früh auf?
Heidi: Guten Morgen, Fräulein Rottenmeier. Der Geißenpeter und ich wollen heute mit der Clara ins Tal!
Fräulein Rottenmeier (kreischt entsetzt): Clara? Ins Tal? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Das kann ich unmöglich erlauben! Der Weg ist viel zu gefährlich! Wie soll Clara in ihrem Rollstuhl …
Heidi: Der Peter wird die Clara tragen! Und er kennt einen sicheren Weg über die Wiesen, der ins Tal herabführt!
Fräulein Rottenmeier (streng): Es heißt ins Tal hinab, Adelheid!
Heidi: Herab, hinab, ist das nicht dasselbe?
Fräulein Rottenmeier: Nein, es ist nicht dasselbe. Es kommt auf die Richtung und die Perspektive an. Wenn du von hier oben nach dort unten gehst, dann gehst du – von dir aus gesehen – hinab. Wer dich unten im Tal kommen sieht, der sieht dich herabsteigen. Für dich ist es hin, für ihn ist es her.
Heidi: Gut, Fräulein Rottenmeier, ich will es mir merken!
Es klopft.
Heidi (erfreut): Oh, das wird der Geißenpeter sein!
Sie springt auf, läuft zur Tür und öffnet.
Heidi: Grüezi, Peter! Komm nur hinein!
Geißenpeter (schüchtern): Hat denn dein Besuch nichts dagegen?
Fräulein Rottenmeier: Nein, hat er nicht, Geißenpeter. Er hat nur etwas dagegen, dass unsere Adelheid die Adverbien durcheinander wirft. Adelheid, du musst zu Peter sagen: Komm herein!
Heidi: Aber haben Sie nicht eben gesagt, für mich sei es hin, und für ihn her?
Fräulein Rottenmeier: Wenn du den Peter aufforderst, in unsere Stube zu treten, dann bittest du ihn herein, nicht hinein.
Geißenpeter: Also, darf ich dann jetzt herein?
Fräulein Rottenmeier: Ja, begreift ihr denn gar nichts? Du musst fragen: Darf ich hinein, denn für dich ist es hin, wenn du zu uns herkommst! Das kann doch nicht so schwer sein!
Geißenpeter (kratzt sich am Kopf): Also, ich glaub, das ist zu hoch für mich. (Er wendet sich wieder Heidi zu): Wo ist die Clara? Will sie nicht mit uns kommen?
Fräulein Rottenmeier (bestimmt): Clara wird nirgendwohin mitkommen. Sie ist viel zu schwach. Eine derartige Anstrengung würde ihr nur schaden.
Geißenpeter: Dann gehen wir halt allein! Wir können ihr ja etwas aus dem Dorf mitbringen!
Heidi (zu Fräulein Rottenmeier): Sollen wir für Sie und für Clara etwas aus dem Dorf mit hinaufbringen?
Fräulein Rottenmeier: Du meinst, ob du uns etwas mit heraufbringen kannst, Adelheid! (Zu sich selbst gesprochen): Ich habe ja sofort erkannt, dass dieses Kind kein Umgang für unsere Clara ist. Es hat den Verstand einer Berggeiß!
Heidi: Wieso heißt es nun auf einmal wieder herauf? Ich dachte, aus meiner Sicht …
Fräulein Rottenmeier: Du sollst nicht denken, sondern zuhören! Wenn du für Clara und mich etwas mitbringst, dann bringst du es zu uns herauf, nicht hinauf.
In diesem Moment betritt der Großvater die Stube.
Alm-Öhi: Guten Morgen! Was macht denn der Peter so früh schon hier?
Heidi: Guten Morgen, Großvater! Peter und ich wollten heute mit der Clara ins Tal, aber Fräulein Rottenmeier ist dagegen. Sie sagt, es wäre zu anstrengend für Clara. Obwohl der Peter sie doch tragen will.
Alm-Öhi: Was denn, der Peter will Fräulein Rottenmeier tragen?
Heidi (lacht): Nein, nicht Fräulein Rottenmeier, sondern Clara!
Alm-Öhi: Herab mag’s vielleicht noch gehen, aber habt ihr euch auch überlegt, wie ihr wieder hinaufkommen wollt? Bergan trägt es sich viel schwerer!
Fräulein Rottenmeier (schrill): Hinab, wenn ich bitten dürfte! Und herauf! Also von Ihnen hat die Adelheid das! Nun, das hätte ich mir ja gleich denken können!
An dieser Stelle tritt Clara durch die Tür. Alle starren sie wie vom Donner gerührt an.
Heidi: Clara! Du kannst ja auf einmal wieder gehen! Wie ist das nur möglich?
Alm-Öhi: Ein Wunder ist geschehen!
Geißenpeter: Prima! Dann können wir ja doch noch alle ins Tal her… äh… hin… also, nach unten ins Tal gehen!
Fräulein Rottenmeier: Das verstehe ich nicht! Clara sollte doch erst in Folge 51 wieder laufen können. Warum hält sich denn hier niemand ans Drehbuch? Und warum bin ich immer die Einzige, die fehlerfreies Deutsch spricht?
In diesem Moment löst sich ein Balken aus der Studiodekoration.
Heidi: Vorsicht, Fräulein Rottenmeier, der Balken dort fällt gleich hinab!
Fräulein Rottenmeier: Adelheid! Hast du es denn immer noch nicht begriffen? Nur wenn etwas von dir aus gesehen nach unten fällt, dann fällt es hinab. Wenn aber etwas von oben auf dich fällt, dann fällt es …
Der Balken fällt herunter, trifft Fräulein Rottenmeier und wirft sie zu Boden.
Fräulein Rottenmeier (stöhnend): … auf mich herab!

An dieser Stelle bricht die Aufzeichnung ab. Aufgrund des chaotischen Drehverlaufs und vielleicht auch wegen der allzu nervenden Besserwisserei Fräulein Rottenmeiers wanderte die Folge unvollendet und ungezeigt ins Archiv. Die Zuschauer sahen stattdessen eine Folge, in der Heidi, Clara und Peter einen glücklichen Tag auf der Almwiese verbringen. Dabei geht es um Freundschaft und Mut, um Vertrauen und die Überwindung von Angst, aber um Adverbien geht es nicht.

Und dies entspricht auch der Wirklichkeit, denn die Unterscheidung zwischen hin- und her- wird selten so genau genommen wie in der oben zitierten Zeichentrickepisode. Im wahren Leben spielt der Unterschied oft keine Rolle mehr.

Dabei hat Claras Gouvernante (so unangenehm sie uns auch erscheinen mag) prinzipiell Recht. „Her“ kennzeichnet die Richtung auf den Sprecher zu, „hin“ markiert die Richtung vom Sprecher weg. So erklärt es auch der Duden. Darum heißt es auch „Komm her zu mir!“ und nicht „Komm hin zu mir!“ und entsprechend „Geh zu ihm hin!“ und nicht „Geh zu ihm her!“

Der Vogel, der aus dem Nest gestoßen wird, fällt – vom Nest aus gesehen – aus dem Nest hinaus. Auch Sicht des Igels unten im Gras fällt der Vogel aus dem Nest heraus. Sofern Igel derlei Vorgängen in der Natur überhaupt Beachtung schenken.

Der Vogel selbst denkt während des Falles: „Ach du Schreck, jetzt bin ich hinausgefallen“, und nachdem er unten im Gras gelandet ist, kann er dem Igel berichten, er sei aus dem Nest herausgefallen. Es kommt also auf die Richtung an – und auf den Blickwinkel.

Dies gilt allerdings nicht für Verben, die im übertragenen Sinn gebraucht werden. Sie werden durchgehend mit „her“ gebildet: über jemanden herfallen, auf jemanden hereinfallen, für etwas herhalten, etwas herunterspielen.

In der norddeutschen Umgangssprache entfällt die Unterscheidung zwischen hin und her komplett, da gibt es nur noch „her-“, und das auch nur in verkürzter Form: „Komm doch mal rüber“ (= herüber), „Lass uns reingehen!“ (= hineingehen), „Bleib wo du bist, Liebling, ich komme runter!“ (= herunter), „Da geht’s in den Keller runter!“ (= hinunter).

In Süddeutschland hingegen wird die Unterscheidung zwischen hin- und her- selbst in der verkürzten Form der Umgangssprache noch vorgenommen: Die Nachbarsleute kommen rüber (= herüber), aber man geht zu ihnen ’nüber (= hinüber), der Wanderer kommt zu uns rauf (= herauf), der Wanderer steigt den Berg ’nauf (= hinauf).

Jawohl, ihr lieben Preiß’n, da staunt ihr, ausgerechnet die Bayern zeigen euch hier, wo’s sprachlich lang geht. Genauer gesagt: Wo’s ’nauf geht und wo’s runter geht mit den Adverbien. Die Bayern und die Österreicher kennen übrigens auch noch die Wörter „herunten“, „heroben“, „herinnen“ und „heraußen“, die allerdings nichts mit den hier beschriebenen richtungweisenden Adverbien zu tun haben. Das „her“ steht in diesen Fällen für „hier“, „herunten“ ist also eine verkürzte Form für „hier unten“.

Wer nun immer noch nicht weiß, ob Rapunzel ihr Haar hinunter- oder heruntergelassen hat, der braucht sich nicht zu grämen. Es gibt Schlimmeres! Und wer sich nicht den Kopf darüber zerbrechen will, ob er den Hammer hinaufreichen soll, wenn er gebeten wird, ihn heraufzureichen, der reiche ihn einfach nach oben.

hin her
Es zog ihn zu ihr hin Sie zog ihn zu sich her
Ich ziehe demnächst von hier dorthin Ich ziehe demnächst von dort hierher
Peter geht in den Garten hinaus Peter kommt aus dem Haus heraus
Heidi geht ins Haus hinein Heidi kommt von draußen herein
Großvater sieht zum Fenster hinaus Man sieht Großvater zum Fenster herausschauen
Peter treibt die Ziegen von der Alm ins Tal hinab Die Leute im Dorf sehen Peter mit den Ziegen ins Tal herabkommen
Heidi steigt die Leiter zum Großvater hinauf Heidi kommt die Leiter zum Großvater herauf
Rapunzel lässt ihr Haar (zum Prinzen) hinunter Rapunzel, lass dein Haar (zu mir) herunter!
Petrus lässt es auf die Erde hinabregnen Es regnet auf uns hernieder
Er ging zum Nachbarn hinüber Sie kam vom Nachbarn herüber

 

(c) Bastian Sick 2005


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 2“ erschienen.

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Kein sprachliches Thema hat die Gemüter in den letzten Jahren so sehr bewegt und erhitzt …

5 Kommentare

  1. Sehr unterhaltsam und interessant zugleich 😀 Da stellt sich auch mir gleich die nächste Frage: Warum wird in einigen Gegenden immer ein Artikel vor den Namen gesetzt und in anderen wieder nicht?

  2. Rainer Göttlinger

    Bei uns zuhause kennt man auch noch die Begriffe „rum” und „num”, wenn einer ums Eck kommt bzw. geht.

  3. Lieber Herr Sick, der Unterschied zwischen „hin“ und „her“ ist leider so manchem nicht bekannt – vielleicht auch nicht den Kreatoren der neuen Rechtschreibung? Wie erklären Sie sich die völlig plemplemene* neue „Silben“-Trennung: hi-nauf, hi-nab, he-rauf, he-rab?
    Sonnige Grüße!

    *Ich liebe dieses Wort! 🙂

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