Sonntag, 20. Oktober 2024

Ohne jegliches sprachliches Gefühl

meineherren420neu.JPG_ctZlbcuo_f.jpg

Ob ich deklinieren kann? Aber gewiss doch! Und zwar in jeglicher erdenklicher Tonart! – Hoppla! Da wollte man sich nur einmal besonders gewählt ausdrücken, und schon ging’s daneben. Aber wer ist schon bar jegliches grammatischen Zweifels?

Beim Mittagessen in der Kantine wird eifrig über eine neue Dienstanweisung diskutiert, die der Chef per Rundschreiben an alle Mitarbeiter verschickt hat. Lena hat sich die E-Mail ausgedruckt und liest den Wortlaut noch einmal vor: „Künftig ist jedwedes privates Telefongespräch ausschließlich während der Pausenzeiten zu führen.“ Erschüttert blickt sie ihre Kollegen am Tisch an: „Ist das zu fassen? Was bildet dieser Lohmann sich ein?“ Michael feixt: „Dass Lohmann ein Wort wie ,jedwedes‘ kennt, ist erstaunlich. So etwas hätte ich ihm gar nicht zugetraut!“

Benedikt bemerkt: „Ja, aber er gebraucht es falsch! Steht da wirklich jedwedes privates Gespräch?“ Lena senkt die Augen noch einmal auf den Zettel und nickt: „Ja, er hat geschrieben jedwedes privates Telefongespräch.“ Dann blickt sie auf: „Wieso, ist daran etwas falsch? Ich meine, abgesehen von der Tatsache, dass diese Anweisung insgesamt eine Frechheit ist?“ – „Korrekt muss es heißen jedwedes private Telefongespräch“, sagt Benedikt, „privatebekommt kein s.“ – „Genau“, pflichtet Carolin ihm bei, „mir kam das auch gleich nicht ganz richtig vor! Ich wollte ihm schon zurückschreiben: Lieber Herr Lohmann, Ihr privates s gehört nicht hierher, das lassen Sie mal lieber schön zuhause!“

„Aber jetzt mal im Ernst, wieso ist das falsch?“, will Lena wissen, „Gibt es dafür irgendeine Regel?“ – „Natürlich“, sagt Benedikt, „es gibt für alles irgendeine Regel. Ob man sie einsehen und sich merken kann, ist etwas anderes. In diesem Falle ist sie eigentlich ganz einfach: Hinter jeder, jede, jedes und genauso hinter jedwederjedwede und jedwedes sowie hinter jeglicher, jegliche und jegliches wird das folgende Adjektiv schwach gebeugt.“ – „Das heißt im Klartext, Lohmann hat die Dienstanweisung ohne jegliches sprachliche Gefühl geschrieben!“, schlussfolgert Michael. „Und nicht etwa ohne jegliches sprachliches Gefühl“, ergänzt Benedikt triumphierend.

Lena ist aber immer noch nicht zufrieden: „Was heißt noch mal schwach geneigt?“ – „Gebeugt!“, berichtigt Benedikt. „Ein harter Mann ist stark, aber der harte Mann ist schwach – um ein Beispiel zu nennen.“ – „Gilt das auch für den be-haarten Mann?“, fragt Carolin kichernd. „Natürlich!“, sagt Lena, „hast du mal Lohmanns Brustbehaarung gesehen? Die kommt ihm ja schon zum Kragen raus!“ Michael verzieht das Gesicht: „Solche Themen bitte nicht beim Essen!“ Diesen Einwand findet Carolin ungerechtfertigt: „Du findest doch immer irgendein Haar in der Suppe!“ Michael seufzt: „Dann muss ich wohl mal klarstellen – am besten per Rundschreiben an alle Kollegen –, dass ich mir künftig jedwedes körperliche Haar in meiner Suppe während der Essenszeiten verbitte!“

Der Mensch ist ein wunderliches Wesen. Er liebt die Gefahr, obwohl sie selten bekömmlich ist, und begibt sich allen Mahnungen zum Trotz immer wieder in Situationen, in denen er sich den Hals brechen kann. Oder wenigstens die Zunge. Mitten im Gespräch lassen wir uns plötzlich zu Formulierungen hinreißen, die wir gar nicht sicher beherrschen. Da will man sich besonders gewählt ausdrücken, und schon steckt man knietief im Morast der deutschen Sprachregeln und ringt verzweifelt nach Worten.

Formulierungen wie „jegliches erdenkliche Szenario“, „jedweder chemische Zusatz“ oder „jegliches betriebliche Vermögen“ klingen beeindruckend, doch bringen sie einen auch immer wieder in Verlegenheit. Aus gutem Grunde gehören sie der gehobenen Sprache an, weil sie in der normalen Sprache nichts als Schwierigkeiten bereiten. Wie schnell stößt man dort an die Grenzen seines Könnens – um nicht zu sagen: an die Grenzen allen Könnens! Oder alles Könnens? Schon sind wir beim Genitiv und somit bei der Wurzel allen Übels. Oder alles Üblen. Oder alles Übels? Hier gilt sowohl die schwache (allen) als auch die starke Beugung (alles) als richtig. Das gilt auch für „jeden Zweifel“. Etwas kann sowohl außerhalb jedes Zweifels sein als auch außerhalb jeden Zweifels. Außer, etwas ist außer jedem Zweifel. Dann steht es – genauer gesagt: jedes – zweifelsfrei im Dativ.

Glücklich ist, wer sich im Alter noch so manchen milden Frühlings erinnern kann oder gar an so manches wilde Mal im Frühling … dabei kommt es weniger auf die Grammatik an als auf die Durchblutung des Gehirns. Wie vieles gerät doch in Vergessenheit! Manches kehrt zum Glück auch wieder zurück.

Die altmodische Redewendung „bar jeder Vernunft“ ist wieder deutlich populärer geworden, seit es in Berlin eine gleichnamige Kabarettbühne mit angeschlossener Gastronomie gibt. Aber wenn hinter der Bar weder die Vernunft noch sonst ein weibliches Wort steht, sondern ein männliches, dann haben wir es wieder mit dem gleichen Problem zu tun: bar jeden Zweifels, bar jedes Zweifels – was ist richtig? Das wäre ja nicht das erste Mal, dass man im Zusammenhang mit einer Bar ins Schwanken gerät. Bevor aber jemand vom Hocker fällt und sich den Kopf stößt, gibt’s auch hier die salomonische Entscheidung des Dudens: beides ist erlaubt.

Richtig schön verschwurbelt wird die Sache mit dem Jeglichen und Jedweden (übrigens nicht: jedwedrigen, wie auch gelegentlich zu lesen ist) ja erst, wenn dem jeweilig Jedweden oder Jeglichen noch etwas vorangestellt wird, wenn also zum Beispiel von der „Prüfung jeglichen befristeten Vertrags“ die Rede ist, oder vom „Unterlassen jedweden geschäftsschädigenden Handelns“. Der Duden erklärt hierzu: „Vor dem Genitiv Singular eines stark gebeugten Maskulinums oder Neutrums wird jeglicher/jedweder schwach gebeugt, auch wenn ihm ein Adjektiv folgt.“ Das ist doch mal eine Regel, die man sich wirklich gut merken kann, finden Sie nicht? Und wenn es Herrn Lohmann mit seinem Hinweis auf den „Verzicht jeglichen privaten Telefongesprächs außerhalb der Pausenzeiten“ doch zu kompliziert werden sollte, bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, es anders auszudrücken: „Ey, Leute, telefonieren is nich!“

Für Silke

(c) Bastian Sick 2009

 


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.

Lesen Sie auch:

Das Wunder des Genderns

Kein sprachliches Thema hat die Gemüter in den letzten Jahren so sehr bewegt und erhitzt …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert