Sind Antibiotikas schädlich? Lohnen sich Praktikas? Was man nicht selber weiß, das muss man sich erklären. Oder man schlägt es nach, denn wozu gibt es schließlich Lexica’s? Viele kennen sich im Einzelfall nicht aus, und erst recht nicht mit der Mehrzahl.
Neulich im Café, Mutter und Tochter bringen sich bei Schokosahnetorte mit Schlag (Mutter) und Vollkorn-Möhrenkuchen (Tochter) auf den neuesten Stand der Dinge. Die Mutter löst vier Stück Würfelzucker in ihrem Tee auf und sagt: „Ach, ihr wollt in die Türkei? Na ja, machen ja viele in letzter Zeit. Die Hotels sollen ja auch ganz anständig sein. Aber sag mal, Kleines, die Türkei ist ja nicht EU, braucht ihr denn da keine Visas?“
Da war es wieder, dieses Wort mit der doppelten Pluralendung. Nicht erst seit PISA leidet Deutschland am Visa. Die massive Werbung der gleichnamigen Kreditkarte hat offenbar dafür gesorgt, dass die Einzahl Visum weiträumig in Vergessenheit geraten ist. So steht dem „Veni, vidi, vici!“ (Ich kam, sah und siegte) des humanistisch gebildeten Einzelfalls heute das „Visums, Visas, Visi?“ der orientierungslosen Mehrheit gegenüber.
Ganz betroffen sind wir auch von all den vielen „Praktikas“, die junge Menschen heute absolvieren müssen, um herauszufinden, was sie später definitiv nicht machen wollen. Musiker spielen gerne „Solis“, und jeder weiß, dass „Internas“ vertraulich zu behandeln sind.
Kann man es den Deutschen aber überhaupt zum Vorwurf machen, wenn sie Fremdwörter falsch benutzen? Immerhin hat Mutti im Café doch gewusst, dass man an Wörter, die mit einem Vokal enden, ein -s anhängen muss, um die Mehrzahl zu bilden. So wie bei Galas, Omas, Kobras und Zebras. Woher soll sie wissen, dass die Endung -a in diesem Fall bereits die Pluralform markiert? Muss man das kleine Latinum gemacht haben, um mitreden zu können?
Der Umgang mit Fremdwörtern stellt die Deutschen immer wieder vor große Herausforderungen. Erstens gilt es in Erfahrung zu bringen, was das fremde Wort genau bedeutet. Dann ist es nützlich zu wissen, wie man es richtig ausspricht. Und schließlich soll man es noch korrekt beugen und in die Mehrzahl bringen können.
Schon gibt es Menschen, die meinen, das Visa-Prinzip begriffen zu haben, und sich anschicken, andere Begriffe nach demselben Prinzip in die Mehrzahl zu wuchten: „Wir leben einfach in verschiedenen Universa,“ gab ein deprimierter Freund als Grund für das Scheitern seiner letzten Beziehung an. „Universa“ ist der Plural im Lateinischen, und so heißen vielleicht Sportvereine und Versicherungen, aber auf Deutsch spricht man von Universen, daran hat sich auch durch die Rechtschreibreform nichts geändert.
Und dann gibt es Menschen, die sich immer wieder freiwillig in die Quadratur des Kreises verbeißen, indem sie versuchen, von ohnehin schon unbequemen Fremdwörtern auch noch die Mehrzahl zu bilden.
„Wie lautet der Plural des Wortes Lapsus?“, will ein Kollege von mir wissen, „Lapsi? Lapsusse?“ Da ich weiß, dass ihn die Antwort nicht zufrieden stellen wird, empfehle ich ihm, es mit einem anderen Wort zu probieren. „Dann nehme ich Fauxpas“, sagt er, „wie lautet da die Mehrzahl?“
Ähnlich harte Nüsse haben Menschen aus der IT-Branche zu knacken, die immer wieder aus heiterem Himmel in Notsituationen geraten, in denen sie Wörter wie Status und Modus in die Mehrzahl zwängen wollen.
Der Plural des lateinischen Wortes status lautet statūs, mit langem u. Und die deutsche Sprache sieht keine anders lautende Nebenform vor. Also: zwei Status, wie auch zwei Lapsus.
Der Drang der deutschen Zunge, an die Endung noch ein -se anzuhängen, ist kaum zu bezähmen. So gibt es im gesprochenen Deutsch jede Menge „Lapsusse“ und „Statusse“, die nicht mit dem Lateinischen konform gehen, aber immerhin in Analogie zu einem berühmten Fall aus der Pflanzenwelt gebildet scheinen: Kaktus, Kaktusse.
Sagte ich gerade Kaktusse? Es heißt natürlich Kakteen, wie jeder weiß. Mit den Analogien ist das so eine Sache. Im Moment blühen übrigens gerade die Krokeen – ganz entzückend sieht das aus, diese vielen kleinen orangenen und violetten Blüten…
Status und Lapsus gehören übrigens in eine Reihe lateinischer Lehnwörter, die zwar im Singular auf -us enden, im Plural dann aber wider Erwarten kein -i bekommen. Das Lateinische unterscheidet fünf Deklinationstypen, und am tückischsten ist der vierte, die so genannte u-Deklination. Zu ihr gehören auch der Passus und der Kasus.
Ein angehender Medizinstudent wollte von mir wissen, wie die Mehrzahl von Exitus lautet. „Als Arzt muss man doch – leider – auch immer mal den Exitus eines Patienten feststellen. Wenn man nun mehrere ,Exitusse‘ benennen will, wie sagt man dann richtig: Exiti?“ – Nein, antwortete ich ihm, Exiti heißt es nicht, auch nicht Exits, das sind die Ausgänge im Englischen. Tatsächlich zählt Exitus zur Gruppe der unzählbaren Hauptwörter, also zu jenen, von denen sich gar keine Mehrzahl bilden lässt. Der Plural von Exitus lautet Todesfälle, sagte ich. Das klingt zwar nicht so gelehrt, wie es die Mediziner lieben, aber dem Tod ist es egal, ob man ihn auf Deutsch oder Lateinisch anredet.
Ein anderer Leser fragte mich, wie der Plural von „Chaos“ heiße. Noch so ein unzählbarer Fall: Kann es mehr als ein Chaos geben? Ja, schrieb er mir zurück, das Chaos auf seinem Schreibtisch im Büro und das bei ihm zu Hause, das wären schon mal zwei. Und wenn man sich ein bisschen umblickte, würde man bestimmt noch weitere finden. Eine Mehrzahlform für Chaos sieht unsere Sprache trotzdem nicht vor.
Damit zurück ins Café. Dort ist die Mutter inzwischen beim dritten Stück Torte und ihrem Lieblingsthema Gesundheit angelangt. „Ich war gestern beim Arzt,“ stöhnt sie, „der hat mir wieder ein Antibiotika verschrieben. Dabei ist doch genug davon im Schweinefleisch. Die pumpen die armen Viecher doch voll mit ihren Pharmakas.“ Die Tochter, ernährungsbewusste Chemielaborantin, blickt ihre Mutter voller Mitleid an und sagt: „Es heißt Pharmaka. Und Antibiotikum. Antibiotika ist die Mehrzahl!“ – „Mehr zahlen muss ich außerdem dafür“, erwidert die Mutter und setzt noch einen beliebten Plural oben drauf: „Volle zehn Euros!“
Tabelle: Problematische Fremdwörter in Einzahl und Mehrzahl
(c) Bastian Sick 2004
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.
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