Donnerstag, 18. April 2024

Wo holen seliger denn nehmen ist

Waren Sie schon einmal in Trier? Dort gibt es einiges zu entdecken und zu bestaunen, vor allem für jemanden, der sich für sonderbare sprachliche Phänomene interessiert. Denn die Trierer holen sich die Freiheit, ein paar Dinge anders auszudrücken.

Für die meisten Deutschen sind „holen“ und „nehmen“ zwei Verben mit unterschiedlicher Bedeutung, zwischen denen es nur selten zu Verwechslungen kommt. In Trier und Umgebung kommt es sogar noch seltener zu Verwechslungen, weil das Verb „nehmen“ in der dortigen Umgangssprache praktisch nicht existiert. Wo unsereins „nehmen“ sagt, da sagt der Trierer „holen“. Das gilt auch für Zusammensetzungen. So fragt der Trierer: „Kannst du mich mitholen?“, wenn er mitgenommen werden will. Und er überholt nicht nur andere Autos, sondern auch Verantwortung. Und wenn er erfolgreich gefastet hat, kann er voller Stolz verkünden: „Ich hab zehn Kilo abgeholt!“

Im Trierer Land wird wenig genommen, dafür umso mehr geholt. Man könnte es auch Hol-land nennen, wenn der Name nicht schon vergeben wäre. Der folgende Dialog zwischen einem Krankenpfleger und einem Patienten trug sich in einem Trierer Krankenhaus zu: „Ich habe Ihnen hier Ihre Tabletten hingelegt, nehmen Sie die zur nächsten Mahlzeit ein!“, sagte der Krankenpfleger. „Is gut, ich hol se dann gleich!“, erwiderte der Patient. Der Krankenpfleger stutzte und erklärte, dass der Patient die Tabletten nicht zu holen brauche; denn er habe sie ihm schließlich schon mitgebracht. „Bitte nehmen Sie sie zur nächsten Mahlzeit ein!“, wiederholte der Krankenpfleger. „Ja, ja, is gut, ich hol se gleich!“, wiederholte seinerseits der Patient. Nachdem der Krankenpfleger noch ein weiteres Mal darauf hingewiesen hatte, dass sich die Tabletten bereits im Zimmer befänden, und der Patient ein weiteres Mal versichert hatte, dass er sie ganz gewiss gleich holen würde, gab der Krankenpfleger auf und verließ kopfschüttelnd den Raum. Er stammte aus dem Münsterland und hatte keine Ahnung von der semantischen Macht des Wortes „holen“ im Lande der Trierer.

Zugegeben: Es ist ganz schön verwirrend. Wenn ein Trierer im Restaurant sagt: „Ich hol das Hühnerfrikassee“, muss der ortsfremde Gast am Nebentisch annehmen, in diesem Restaurant herrsche Selbstbedienung. „Dann kann ich ja auch gleich zu McDonald’s gehen“, wird er denken. Und auch dort würde er sich wundern, spätestens wenn er gefragt wird, ob seine Bestellung „zum Mitholen“ sei.

Als ich selbst einmal einen Herrn aus Trier nach einem gemeinsamen Restaurantbesuch fragte, ob ich ihn im Taxi mitnehmen könne, antwortete er höflich: „Lassen Sie nur, ich hol den Bus!“ Ich stellte mir daraufhin vor, dass er wohl mit einem VW-Transporter gekommen sei.

Das Holen-statt-Nehmen-Phänomen ist eine Besonderheit des Moselfränkischen und daher auch im Saarland verbreitet. Es gibt Saarländer, die Französischunterricht holen, und andere, die sich an guten Taten ein Beispiel holen. Vor manchen muss man sich in Acht holen, besonders vor denen, die den Mund gern etwas zu voll holen. Ansonsten kann man im Saarland eine ganze Menge unterholen, man kann Dinge tun, die man sich seit langem vorgeholt hat, man kann Beleidigungen aussprechen und wieder zurückholen, einen Gast bei sich aufholen und für den Nachbarn ein Paket anholen. Es scheint wie ein Spiel, bei dem man ein Wort durch ein anderes ersetzen muss.

Als Ortsfremder mag man das sonderbar finden oder einfach nur zum Schmunzeln. Auf jeden Fall aber lädt es dazu ein, sich über die Bedeutung der Wörter „nehmen“ und „holen“ ein paar Gedanken zu machen. Denn worin besteht eigentlich der genaue Unterschied? Wer sich Milch aus dem Kühlschrank nimmt, der steht bereits direkt davor. Wer sich Milch aus dem Kühlschrank holt, der muss erst noch zum Kühlschrank gehen. Beim Nehmen, so könnte man vereinfachend festhalten, kommen die Hände zum Einsatz, beim Holen sind außerdem die Füße beteiligt. Allerdings passt diese Definition nicht immer, denn zum Luftholen benötigt man weder die Hände noch die Füße. Und wer Abschied nimmt, der lässt sogar los, statt festzuhalten.

Die Trierer und die Saarländer sind übrigens nicht die einzigen, bei denen das Verb „holen“ eine erweiterte Bedeutung hat. Viele Deutsche gebrauchen das Wort „holen“ anstelle von „kaufen“ und sagen Sätze wie „Letzte Woche hab ich mir auch endlich einen DVD-Rekorder geholt“ oder „Mein Fernseher ist im Arsch! Ich muss mir dringend einen neuen holen!“ Für mich klingt das immer ein wenig suspekt — ich finde, es hört sich irgendwie nach Ladendiebstahl an.

Geben ist seliger denn nehmen, heißt es in der Bibel. Ob die Trierer Theologie wohl die Meinung vertritt, geben sei seliger denn holen? Jedenfalls brauchen Psychiater ihre suizidgefährdeten Patienten nur nach Trier oder nach Saarbrücken zu schicken, schon sind sie ihre Sorgen los, denn dort nimmt man sich nicht das Leben. Dort holt man es sich höchstens.

(c) Bastian Sick 2007


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.

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