Früher bekam man bisweilen Briefe, die mit Oblaten verziert waren. Kennen Sie das noch? So wunderbar kitschige Klebebildchen von Engeln oder Hundebabys, die links oben in der Ecke oder am unteren Rand appliziert wurden, manchmal auch mitten auf der Seite, wenn es galt, einen peinlichen Fehler zu kaschieren oder den dürftigen Inhalt zu strecken, damit die Seite irgendwie gefüllt wurde. Heute bekommt man gelegentlich E-Mails, in die lustige Comiczeichnungen einmontiert sind. Vorzugsweise animiert, das heißt, sie bewegen sich, so wie die Personen auf den Fotos und Gemälden in „Harry Potter“. In der Weihnachtszeit, zu Ostern und zum Geburtstag ist es am schlimmsten. Nichts ahnend öffnet man die Mail, die mit „Frohe Weihnachten!“ oder „Herzlichen Glückwunsch!“ überschrieben ist, und – zack – springt einem ein winkender Weihnachtsmann ins Gesicht, oder ein gar luustisches Glückshäschen schlackert mit den Ohren. Man erschrickt, und reflexartig klickt man die E-Mail wieder zu. Und ob man den Mut aufbringt, sie später noch einmal wieder zu öffnen, um die eigentliche Grußbotschaft zu lesen, ist äußerst fraglich.
Immer mehr Menschen entdecken die Möglichkeiten! Nicht die, die ihnen der Ikea-Katalog verheißt, sondern die Möglichkeiten, ihre E-Mails mit Hilfe von HTML-Befehlen zu „verschönern“. Da kann man für seine E-Mail zum Beispiel eine ganz individuelle Hintergrundfarbe wählen. Oder am besten gleich eine Mustertapete. Nicht selten wird in diesem kreativen Rausch jedoch versäumt, die Schriftfarbe auf den Hintergrund abzustimmen. Schwarze Buchstaben vor einem moosgrünen oder einem marineblauen Hintergrund sind nicht besonders gut zu erkennen. Es kann passieren, dass sie überhaupt nicht zu erkennen sind und der Text erst sichtbar wird, wenn man mit gedrückter linker Maustaste suchend über den Hintergrund fährt und alles markiert. Das erinnert an die Zeit, als man sich Briefe mit unsichtbarer Zaubertinte schrieb, die nur mit Hilfe eines Bügeleisens sichtbar wurde: „Generation Yps mit Gimmick“ lässt grüßen!
Jeder Mensch hat seine persönliche Schmerzgrenze. Bei einigen beginnt sie dort, wo es im buchstäblichen Sinne „zu bunt“ wird. Manchmal hilft dann nur noch ein Klick auf den „Löschen“-Button.
(c) Bastian Sick 2005
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 2“ erschienen.
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