Die Teilnehmer eines „Deutsch als Fremdsprache“-Kurses beschäftigt die Frage, ob man „weit gereist“ in einem oder in zwei Wörtern schreibt. Der Zwiebelfisch erklärt, dass beides möglich ist – und dass es dabei einen Bedeutungsunterschied gibt, der von der Rechtschreibreform um ein Haar eingeebnet worden wäre.
FOTO: DIE WEISEN AUS DEM MORGENLAND – DREI WEITGEREISTE, DIE WEIT GEREIST WAREN
Frage an den Zwiebelfisch: Wir, die Teilnehmer des B2-Deutschkurses, lernen gerade viel über die deutsche Grammatik. Für uns Ausländer ist sie sehr schwer, aber wir haben zum Glück eine gute Lehrerin. Wir haben schon ein paar Ihrer Texte gelesen, die finden wir sehr lehrreich! Gerade beschäftigen wir uns mit der Zusammenschreibung. Dazu haben wir eine Frage, die wohl nur Sie uns beantworten können:
In einem Lückentext steht „Wer ____gereist ist, hat viele Länder gesehen“. Die Lösung lautet entweder „weit gereist“ oder „weitgereist“.
Vor Kurzem haben wir Ihren Text „Weiter kommen oder weiterkommen“ gelesen und glauben deshalb, dass „weit gereist“ getrennt geschrieben werden muss, sind uns aber nicht sicher. Können Sie uns bitte sagen, ob wir richtig liegen? Vielen Dank und freundliche Grüße
Antwort des Zwiebelfischs: Liebe Teilnehmer des B2-Deutschkurses, wie gut, dass Sie sich nicht allein auf die Rechtschreibprüfung verlassen. Mein Mailprogramm kennt „weitgereist“ nicht und legt mir nahe, es getrennt zu schreiben. Dabei existieren beide Möglichkeiten.
Es kommt darauf an, ob die Betonung nur auf „weit“ liegt oder ob auch das Wort „gereist“ betont wird. Werden beide Teile betont, dann schreibt man sie getrennt: weit gereist.
Das ist immer dann der Fall, wenn man statt „weit“ auch „viel“ oder „lange“ sagen könnte oder wenn „weit“ noch durch ein vorangehendes Wort wie „sehr“ oder „besonders“ näher bestimmt wird. Oder wenn „weit“ mit etwas anderem verglichen wird.
Beispiele:
Du bist ziemlich weit gereist, um hierher zu kommen.
Mein Vater ist in seinem Leben weit gereist, aber mein Großonkel noch um einiges weiter.
Wenn die Betonung nur auf „weit“ liegt, dann schreibt man „weitgereist“ in einem Wort. Das ist dann der Fall, wenn es die Bedeutung „erfahren; durch Reisen gebildet“ hat, also im übertragenen Sinn gebraucht wird.
Beispiele:
Der Professor war überaus belesen und weitgereist und galt als nahezu allwissend.
Sindbad war schon als junger Mann viel herumgekommen, doch erst im Alter nannte man ihn einen weitgereisten Mann.
In Ihrem Lückentext sind tatsächlich beide Formen möglich; es kommt darauf an, was Sie zum Ausdruck bringen wollen:
Schreiben Sie „weit gereist“ in zwei Wörtern, hat der Satz die Bedeutung
„Wer viel gereist ist/lange auf Reisen war, hat viele Länder gesehen“.
Das sagt nichts darüber aus, ob er auf diesen Reisen auch etwas gelernt hat. Es geht nur darum, dass er weite Strecken zurückgelegt hat.
Schreiben Sie „weitgereist“ in einem Wort, hat der Satz die Bedeutung
„Wer erfahren ist/weltkundig ist, hat viele Länder gesehen“.
Hierbei geht es nicht allein um die zurückgelegte Entfernung, sondern um das geistige Ausschöpfen des Reisens.
Das ist das Wunderbare an der deutschen Orthografie: Mittels der Zusammenschreibung kann man die Betonung im Schriftlichen verändern und den Unterschied zwischen wörtlicher Bedeutung und übertragener Bedeutung kenntlich machen.
In der Rechtschreibreform des Jahres 1996 sollte diese Möglichkeit der Differenzierung zunächst abgeschafft werden, da viele sie ohnehin nie begriffen haben. Es sollte nur noch möglich sein, „weit gereist“ in zwei Wörtern zu schreiben. Das betraf auch zahlreiche andere Zusammensetzungen aus Adjektiven und Verben:
„frisch gebacken“ sollte nur noch in zwei Wörtern möglich sein – wobei man ignorierte, dass „frischgebacken“ auch eine übertragene Bedeutung haben kann, wie beim frischgebackenen Ehepaar, das keineswegs aus dem Ofen kommt.
Auch „allein stehend“ sollte es nicht mehr in Zusammenschreibung geben – obwohl es ein nicht unerheblicher Unterschied ist, ob von einem allein (= einzeln) stehenden Gebäude die Rede ist oder von einem alleinstehenden (= partnerlosen) Menschen.
Bei der Reform der Reform (2006) ist diese Vereinfachung wieder zurückgenommen worden; die Möglichkeit der Unterscheidung sollte erhalten bleiben. Offenbar hatten die Reformer eingesehen, dass durch Vereinfachung und Abschaffung von Unterscheidungsmöglichkeiten die Sprache nicht reicher wird, sondern ärmer. Darum ist es (wieder) möglich, den Unterschied zwischen „weit gereist“ (= eine weite Reise gemacht habend) und „weitgereist“ (= erfahren; durch Reisen gebildet sein) auch im Schriftlichen kenntlich zu machen.
Viele Deutsche sind in ihrem Leben weit gereist: nach Mallorca, Thailand oder in die Karibik – doch nur die wenigsten davon können als weitgereist gelten.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen beim Erlernen unserer Sprache viel Freude, Erkenntnis und Erfolg. Ihr
Bastian Sick
Immer wieder bin ich erfreut, dass Sie, Herr Sick, sich so engagiert um die deutsche Sprache kümmern. Ihre Bücher habe ich alle gelesen.
Toll, weiter so.
Lieber Herr Sick,
zum Satz „Wer ____gereist ist, hat viele Länder gesehen“ sehe ich nur eine Variante: „weitgereist“.
Z.B.: „Meine erste Auslandsreise führte mich nach Thailand.“ Da bin ich zwar weit gereist, habe aber noch nicht viele Länder gesehen.
Freundliche Grüße
Jürgen Wachsmuth