Unvernunft begegnet man mit Vernunft, Unhöflichkeit mit Höflichkeit. Doch wie begegnet man Unverfrorenheit und Unverblümtheit? Mit Verfrorenheit und Verblümtheit? Von einer ganzen Reihe von Un-Wörtern scheinen uns die dazugehörigen Wörter zu fehlen.
Gelegentlich betätige ich mich als Vorleser. Der kleine Christopher geht in die 2. Klasse und liebt spannende Abenteuer. „Ich habe dir eine Geschichte mitgebracht, die dir bestimmt gefallen wird!“, verriet ich ihm. „Sie handelt von einem Bauernjungen, der von zuhause wegläuft und in sich in einer Höhle versteckt, in der ein übel gelaunter Drache haust.“ – „Ein richtiger Drache?“ – „Genau! Der ist so unwirsch wie Oskar aus der Sesamstraße, nur viel gefährlicher!“ Da fragte Christopher: „Was bedeutet unwirsch?“ – „Unwirsch? Das bedeutet so viel wie mürrisch, griesgrämig.“ Christopher fragte weiter: „Und was bedeutet dann wirsch?“ – „Tja, mal überlegen … das Wort wirsch ist mir offen gestanden nicht geläufig.“ – „Kommt das vielleicht von Kalle Wirsch?“ – „Dem Erdmännchenkönig aus der Augsburger Puppenkiste? Das wäre natürlich eine prima Erklärung, aber warte, das haben wir gleich!“ Ich öffnete meinen Klapprechner und startete eine Suche im Internet. „Hier wird es erklärt: wirsch bedeutet grob, schroff, verärgert, zornig.“ – „Das ist doch aber dasselbe wie unwirsch!“, protestierte Christopher. „Wenn unwirsch griesgrämig bedeutet, muss wirsch doch nett sein!“ – „Sprache ist nicht immer logisch“, versuchte ich mich rauszureden, „lass uns lieber schauen, wie es dem Bauernjungen in der Drachenhöhle ergeht!“
Anderntags recherchierte ich noch etwas weiter und kam zu dem Schluss, dass wirsch und unwirsch nicht dieselben Wurzeln haben: wirsch geht auf „wirr“ zurück, unwirsch hingegen auf „unwirde“, ein altes Wort für „unwert“ im Sinne von „verächtlich“. Das Gegenteil von unwirsch ist demnach nicht wirsch, sondern „wert“, so wie in der Anrede „Werte Damen und Herren“. Und während ich im Wörterbuch blätterte, fiel mir auf, wie viele Wörter mit der Vorsilbe „un“ beginnen. Es scheinen unendlich viele zu sein, unfassbar viele, unglaublich viele auf jeden Fall. Dafür gibt es natürlich einen einleuchtenden Grund: Beinahe jedes Wort kann ins Gegenteil verkehrt werden, aus jedem Ja kann ein Nein werden, aus jedem Wort ein Unwort. Alles Negative wird positiv – und umgekehrt. Oder, wie ich mal in einer Werbung für Duftkissen gelesen habe: „Alles Negertiefe wird posetief“.
Doch zu so manchen negativen Wörtern, die mit „un“ beginnen, scheint das positive Pendant zu fehlen. Nehmen wir nur mal das feine Wort „ungemein“: Ich kann mich über Kleinigkeiten ungemein freuen, aber wie fühlt es sich an, wenn ich mich gemein freue? Jeder fürchtet sich vor unliebsamen Folgen, doch was ist mit den liebsamen? Wenn meine Mitarbeiterin heute unpässlich ist, ist sie dann morgen wieder pässlich? Und warum werde ich nie für meine gehobelten Manieren gelobt?
Ein Wüstling oder Sittenstrolch wird auch als Unhold bezeichnet. Aber wo ist der Hold geblieben? Man kennt die holde Maid und die Holdseligkeit, doch den guten, braven Hold hat man vergessen. Auch das Getüm sagt uns heute nichts mehr – im Gegensatz zum Ungetüm.
Nicht immer bedeutet „un“ die Umkehr ins Gegenteil. Bei einigen Hauptwörtern kann „un“ auch eine Verstärkung bewirken. Davon zeugen Unkosten und Unsummen, über die sich schon so mancher Leser schriftlich bei mir beschwert hat. Auch Unmenge, Unzahl und Unwetter gehören dazu.
Wer hätte gedacht, das das Wort „Unding“ bereits seit dem 13. Jahrhundert existiert? Es klingt so typisch neudeutsch. Doch schon im Mittelalter kannte man das undinc in der Bedeutung „schlechte Sache“, „Ungerechigkeit“. Und wo wir gerade von alten Zeiten reden: Das Wort „Geziefer“ geht auf das althochdeutsche Wort „zebar“ zurück, das „Opfertier“ bedeutete. Alle Tiere, die es nicht wert waren, geopfert zu werden, waren folglich Ungeziefer. Dazu gehörten anfangs wohl auch Vögel, Mäuse und Ratten, später hat sich die Bedeutung auf Insekten verengt.
Noch etwas an „un“ ist bemerkenswert: Im Unterschied zu „nicht“ enthält „un“ oft eine Wertung. So besagt das Urteil „unmenschlich“ etwas anderes als „nicht menschlich“. Und „nicht christlich“ ist etwas anderes als „unchristlich“.
Manchmal hat das Grundwort ohne die Vorsilbe „un“ eine andere Bedeutung, als es sie in der Verbindung mit „un“ hat. Die Wörter „längst“ und „unlängst“ sind zwar erkennbar gleichen Ursprungs, doch ist „unlängst“ nicht das Gegenteil von „längst“, genauso wenig wie „unscheinbar“ das Gegenteil von „scheinbar“ ist. Oder Ungarn das Gegenteil von Garn. (Kalaueralarm!)
Nach vielen positiven Blümchen sucht man zwischen all dem negativen Un-Kraut vergebens: Wo fänden Wörter wie „antastbar“, „ausweichlich“, „verbrüchlich“, „bedarft“ und „entwegt“ Verwendung? „Unverhofft kommt oft“, lautet eine Redensart. Das Umgekehrte trifft gleichfalls zu, denn „verhofft“ kommt nicht so oft.
Auch das Wort „gefähr“ scheint es nicht zu geben. Das liegt daran, dass „ungefähr“ gar nichts mit „un“ zu tun hat; es entstand nämlich aus dem mittelhochdeutschen ane gevaere, ohne Gefahr, in der alten Bedeutung „ohne böse Absicht“. Die Bedeutung „etwa“ verdankt es der mittelalterlichen Rechtssprache, in der man bei der Angabe von Zahlen- und Maßangaben stets erklärte, eventuelle Ungenauigkeiten seien „ohne böse Absicht“ gewesen.
Mit „un“ verzierte Wörter werden gern als Kraftausdrücke benutzt. Sie sind die elegantere Variante zu „super“, „krass“ und „cool“: „Unglaublich frech! Unfassbar witzig! Unerhört komisch!“ So etwas liest jeder Comedian gern über sich in der Presse. Aber auch Comedians haben mal bessere und mal schlechtere Tage. Gerade stelle ich mir vor, wie ein Comedian nach einem besonders schlechten Tag über sich in der Zeitung lesen muss: „Glaublich frech! Fassbar witzig! Erhört komisch!“
Auf dem Weg zu Henrys Wohnung bekam mein Fahrrad einen Platten. „Und dabei ist es angeblich unplattbar!“, schimpfte ich. Ich stellte es ab, um Flickzeug zu holen. Als ich zurückkehrte, war das Fahrrad gestohlen. Nun schimpfte ich erst recht. „Sieh es doch mal so“, empfahl mir Henry: „Jetzt brauchst du den Reifen nicht mehr zu flicken!“ Damit hatte er Recht. Seitdem versuche ich, in allem das Gute zu sehen. Wenn mir jemand zu ungestüm daherkommt, stelle ich ihn mir gestüm vor*. Wenn ich mit unverfrorenen Forderungen konfrontiert werde, stelle ich mir verfrorene vor**. Und in jedem Unfug sehe ich immer auch den Fug.
Zum Geburtstag schenkte ich Henry eine ziemlich geschmacklose Winkefigur, auf die er sehr verhalten reagierte. „Was ist los?“, fragte ich. „Gefällt sie dir nicht? Sibylle habe ich auch so eine geschenkt, die hat sich unheimlich gefreut!“ Henry erwiderte: „Ich freue mich lieber heimlich!“
*ungestüm = Gegenteil zu mittelhochdeutsch „gestüeme“ = ruhig, sanft
**unverfroren = volksetymologische Umbildung des nicht mehr verstandenen niederdeutschen „unverfehrt“ = „unerschrocken“
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Salut, Bastian! Du hast den Tertan vergessen. Das war ein aufgeklärter Bürger voll hehrer Ideale, der sich keinem Alleinherrscher oder System zu beugen bereit war. Fürsten und Diktatoren verfolgten ihn so lange, bis nur noch seine gegenteilige Form übrig war: der Un-Tertan.
Danke für den „UN-Artikel“. Es mag ja falsch sein, aber ich habe mal während meiner kaufmännischen Ausbildung gelernt, dass es Unkosten nicht gibt, es gibt nur Kosten, denn Unkosten wären keine Kosten. Und wo es keine Kosten gibt, können auch keine Unkosten entstehen. Oder liege ich da falsch? Da gab es ja auch mal den „Ausschuß für unamerikanische Umtriebe“ des Herrm McCarthy. Dazu die Frage, ob es auch amerikanische Umtriebe gibt. Zählen dazu vielleicht die Umtriebe der NSA?
Lieber Herr Kullmann! Wie in der Kolumne erwähnt: „Unkosten“ ist die verstärkende Form von „Kosten“ und gehört somit in dieselbe Kategorie wie „Unzahl“, „Unmenge“, „Unsumme“ und „Unwetter“. Der Duden vermerkt dazu: „Allerdings ist in der Fachsprache der Betriebswirtschaft nicht zulässig, dort spricht man nur von .“ Was Sie in Ihrer kaufmännischen Ausbildung gelernt haben, war also zutreffend – jedenfalls auf die Kaufmannssprache bezogen. In der Allerweltssprache sind „Unkosten“ hingegen völlig normal.
„Damit hatte er Recht.“
Mit Neffen und Nichten. Er hatte nicht „Recht“, sondern „recht“. Die Großschreibung eines Adverbs ist totaler Quatsch, auch wenn die ObergroßschreiberInnen vom Wallfahrtsort St. Duden mit ihrem Prior Gallmann vielleicht anderer Meinung sind.
Lieber Herr Sick, ich musste sofort an Folgendes denken: Bei den Anti-Startbahn-West-Demonstrationen (Frankfurt/Main) der achtziger Jahre kam der Slogan auf: „Verglimpft den Staat!“, da das verunglimpfen ja gesetzlich verboten war (ich weiß gar nicht ob das immer noch so ist). Mir jedenfalls ist das „verglimpfen“ immer beigeblieben…
Hallihallo! Das war doch wieder einmal sehr lehrreich und – um in Henrys Kerbe zu schlagen – unterhaltsam; im Gegensatz zum Fernsehprogramm, das meist recht terhaltsam ist …
Eine Anmerkung zu „unheimlich“: Das bildet nämlich tatsächlich das Gegenteil zu „heimlich“, allerdings nicht in der Bedeutung, die dieses Wort heute hat, sondern in der früheren Bedeutung „gewohnt, vertraut“ – oder eben „heimelig“, wie es heute heißt.
Bleibt für mich nur noch die Frage, ob es irgendwo einen Ort namens „Na“ gibt und ob man dort plant, eine Städtepartnerschaft mit Unna einzugehen …
Herzliche Grüße
Frank
Die arme Stadt Unna muss wohl auf ihre Partnerstadt verzichten. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Ort namens „Terwellenborn“ eine Partnerschaft mit dem thüringischen Unterwellenborn schließt.
Hallo Herr Sick, beim Lesen Ihrer Eingangszeilen kam mir als Erstes der Ausdruck „nicht unübel“ in den Sinn – der doch faktisch das Gleiche bedeutet wie „nicht übel“, oder?
Das soll wohl genau diese Meinung hervorrufen, um den so Beurteilten (momentan) nicht zu vergrämen – falls er (später) nicht genauer nachdenkt: Denn als doppelte Verneinung bedeutet es sehr wohl „ganz übel“.
So kann ein Lehrer auch zu den Eltern eines unbegabten Schülers sagen: „Ihr Kind ist gar nicht so undumm“ – und die fühlen sich auch noch geschmeichelt!
Sehr geehrter Herr Sick, in diesem Zusammenhang lässt sich vielleicht auch das Folgende beantworten:
Wenn man genug gegessen hat, ist man „satt“.
Was ist man, wenn man genug getrunken hat?
Fröhliche Grüße
Uwe Wagner
Lieber Herr Wagner! Offiziell gibt es kein Wort für das Gegenteil von „durstig“. Sie können natürlich „undurstig“ sagen. Einige verwenden das lustige Wort „sitt“, ein in Analogie zu „satt“ geprägtes Kunstwort. Wenn Hunger und Durst gestillt sind, kann man sagen: „Ich bin sitt und satt!“ Im Duden steht „sitt“ allerdings noch nicht.
Bei der Lektüre dieses Artikels habe ich mich amüsiert und etwas dazugelernt. Dafür vielen Dank.
Allerdings habe ich mich – wie so oft – gefragt, wieso „zuhause“ eigentlich nicht korrekt in zwei Worten, also „zu Hause“, geschrieben worden ist. Immerhin müsste es sonst auch konsequenterweise „nachhause“ heißen … und das möge uns erspart bleiben.
Liebe Rike! Ich schreibe „zuhause“ aus lieber alter Gewohnheit zusammen, und dafür gibt es eine schöne Rechtfertigung: Die süddeutsche Entsprechung „daheim“ wird schließlich ebenfalls zusammengeschrieben! Solange es nicht „da Heim“ heißt, werde ich auch nicht „zu Hause“ schreiben.
Das halte ich für eine Ansicht, aber nicht für ein Argument. In der Schule wird „nach Hause“ gelehrt. Machen Sie es den Schülern doch nicht so schwer. Denken Sie daran, bei 7 Rechtschreibfehlern wird dem Abiturienten eine Note abgezogen! Umd wer sagt mir, dass der Lehrer weiß, dass es beide Schreibweisen gibt?
LG C. Freimark
Hat eigentlich schon mal jemand „Unwort“ als Unwort des Jahres vorgeschlagen? Das wäre doch mal fällig!
Es gibt zu diesem Un-Thema ein Liebesgedicht von Hans Pruszinsky:
O du mein Hold, du mein Getüm, bist ganz gezogen und verfroren!
Drum hab ich dich auch, ganz gestüm, als mein Geheuer auserkoren.
Ein absolut nicht unnützer, sondern sehr nützlicher Artikel über die verschiedenen Un-Wesen der Vorsilbe „Un-“!
Jetzt möchte ich nur noch wissen, was der Sinn des Wortes „Unterricht“ ist, um Sohnemann das mal erklären zu können – denkt er doch gerne, das sei so etwas wie der „Unverrichter der Dinge … !“
Herzlichen Dank für das Vergnügen.
Hallo Herr Sick,
zu Ihrem Artikel fällt mir eine witzige Anekdote ein.
Die Lehrerin erklärt den Schülern, dass die Vorsilbe „un“ meistens etwas Schlechtes bedeutet. Als Beispiel nennt sie Unwetter oder Unpünktlichkeit. Auf ihre Frage, wer ihr noch weitere Bespiele nennen kann, antwortet ein Schüler: „Unterricht!“
Noch etwas Anderes. Das „U“ in U-Bahn steht doch für „Untergrundbahn“, welche i. d. R. unterirdisch fährt. Hier kann die Regelung, die Vorsilbe „un“ verwandelt die Bedeutung des Wortes ins Gegenteil nicht angewendet werden oder? Wie stufen Sie diese Wörter ein? Schließlich gibt es ja keine „Tergrundbahn“, die womöglich „terirdisch“ fährt und von einem „Ternehmen“ betrieben wird.
Schon mal jemanden verglimpft, und zwar so richtig verblümt?
Mir scheint, dass nach „un-“ im verstärkenden Sinn die nächste Silbe betont wird, nach „un-“ im negierenden Sinn dagegen nicht. So wie ich das mal gelernt habe, kann „un-“ drei Dinge bedeuten: neben den beiden nämlich auch noch das „unangenehme“ (Unmensch beispielsweise, der ist immer noch ein Mensch, nur kein besonders umgänglicher).
Die Tante meines Mannes gab ihm als Kind vor Besuchen bei fremden Leuten immer den wohlmeinenden Rat: „Sei schierisch, wirsch und flätig“.
Wenn ich das ab und zu erzähle, ernte ich verwirrte Blicke und muss es erklären. Danke für den Beitrag, für dessen Thema man noch viele weitere Beispiele finden könnte.
Kleine Anmerkung: Ich kenne das Wort „wirsch“ tatsächlich nur in der Bedeutung „wirr“ bzw. in diesem Sinne auch „seltsam“, und nicht als „zornig“ oder „verärgert“. Ich komme aus dem Ruhrgebiet, vielleicht hat es sich regional in dieser Bedeutung gehalten? Ich weiß es nicht.
Von wegen, das Getüm kennt man nicht mehr! Ohne Werbung für diesen Konzern machen zu wollen, der sich weigert, seine Leute angemessen zu bezahlen, aber hier ist es:
http://www.amazon.de/Das-Get%C3%BCm-Dietlind-Neven-DuMont/dp/3499200104/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1405580807&sr=8-1&keywords=das+get%C3%BCm
Das ehemalige Lieblingsbuch meiner Schwester – und ist es nicht gar niedlich?
Lieber Herr Sick, mein Kommentar passt weder eigentlich noch uneigentlich hier her. Aber da mir Ihre Kontaktanschrift bei der Gelegenheit so prima serviert wird, nutze ich sie einfach mal für eine Frage: Wie heißt denn wohl die Einzahl von „Leute“. Etwa „ein Laut“?
Viele Grüße, und vielen Dank für Ihre herrlichen (als Emanze sollte ich wohl besser „dämlichen“sagen?) Aufsätze!
Monika Fricke (73) aus Hannover