Das Deutsche ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Angehörige anderer Kulturen zeigen sich oft beeindruckt von der literarischen Kraft des Deutschen und der Befähigung, Dinge klar und logisch darzustellen. Am faszinierendsten scheint jedoch die Möglichkeit, Wörter zu langen Gebilden zusammenzusetzen. Und dieser Möglichkeit sind theoretisch keine Grenzen gesetzt.
Aufgrund der wachsenden Skepsis gegenüber der Europäischen Union beschäftigen sich britische Medien seit einiger Zeit verstärkt mit Deutschland und den Deutschen. Die Tageszeitung „The Guardian“ widmete dem Thema gleich eine ganze Serie. Es ging darum, zu ergründen, was die Deutschen ausmacht: was sie leisten, was sie am besten können, was sie lieben, was sie fürchten, was sie denken und wie sie sprechen.
Ein Beitrag griff eine sprachliche Eigenheit auf, die Außenstehende immer wieder gleichermaßen fasziniert und fassungslos macht. Es ist die einzigartige Befähigung des Deutschen, Wörter zu verbinden und aus ihnen lange und immer längere Wortketten zu bilden.
Für die meisten Nicht-Deutsch-Sprechenden sind bereits Wörter wie Fußgängerzone, Sommerschlussverkauf, Geschirrspülautomat, Haushaltsreinigungsmittel und Staubsaugerersatzbeutel der schiere Wahnsinn. Darüber können wir freilich nur müde lächeln, wohlwissend, dass dies lediglich die Spitze eines kolossalen Eisbergs ist. Denn wer schon die einfache „Fußgängerzone“ für außergewöhnlich hält, was mag der erst von der Fußgängerzonenneugestaltung halten?
Der Autor des „Guardian“-Artikels nannte unter anderem das Wort „Geschwindigkeitsbeschränkung“, das uns Deutschen wie selbstverständlich über die Lippen geht. Dass dies ein besonders langes Wort sein soll, kommt uns nicht einmal so vor. Die beeindruckende Länge wird erst im Vergleich offenbar: Die englische Übersetzung „speed limit“ kommt mit einem Drittel der Buchstabenmenge aus. Es gibt im Deutschen zwar eine Geschwindigkeitsbegrenzung, aber keine Wortüberlängenhöchstzulässigkeitsbeschränkung.
In einer Sendung des Automagazins „Top Gear“ auf dem britischen Fernsehsender BBC sorgte ein Gast für große Heiterkeit, indem er das Wort „Doppelkupplungsgetriebe“ buchstabierte. Es schien einfach nicht aufhören zu wollen, die Zuschauer bogen sich vor Lachen. Die Heiterkeit wirkt ansteckend, als Deutscher lacht man unwillkürlich mit. Im Spiegel anderer Kulturen wird man sich des Besonderen und Kuriosen der eigenen Sprache überhaupt erst bewusst.
Allein die Möglichkeit, Zahlen auszuschreiben, kann deutsche Wörter über jeden Zeilenrand hinauskatapultieren. In Buchstaben ausgedrückt, wird die übersichtliche Zahl 738.629 zum unüberschaubaren Cluster: siebenhundertachtunddreißigtausendsechshundertneunundzwanzig.
Auf der Suche nach besonders langen Wortzusammensetzungen gelangt man unweigerlich zur schönen blauen Donau. Denn die meisten Beiträge zum Thema „Das längste deutsche Wort“ beginnen mit dem bereits legendären Donaudampfschifffahrtskapitän, der sich wahlweise mit Kajütenschlüsseln, Lebensversicherungspolicen, Ruhestandsgeldern oder Witwenrentenbezügen verbinden darf. Angeblich soll es eine mit „Donaudampfschifffahrt“ beginnende Zusammensetzung sogar mal zu einem Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft haben. Das insgesamt 79 Buchstaben zählende Wortungetüm wirkt allerdings so künstlich, dass zu Recht bezweifelt wird, ob es je ernsthaft existiert hat. Denn zum Spaße ausdenken kann man sich vieles. Da sind 79 Buchstaben noch längst nicht das Ende. Nehmen wir nur mal die Unterhaltungselektronik- einzelhandelsfachverkäuferschulungswochenend-seminarteilnehmerliste, die kommt locker auf 89 Buchstaben. Schon ist ein Weltrekord gebrochen!
Der Fantasie sind schließlich keine Grenzen gesetzt. Man kann sich Zusammensetzungen ausdenken wie Weihnachtskrippenfigurenmindestbestellmenge,
Ostereierproduktionsüberschussverwertungsregelung und Ellenbogengesellschaftsvertragskündigungsgrundlage. Die sind zweifellos amüsant, doch dürften sie kaum zur praktischen Anwendung gelangen.
Interessanter sind jene Wörter, die es auch in Wirklichkeit gibt. Wortzusammensetzungen, die in ernst gemeinten Publikationen auftauchen, in amtlichen Broschüren oder sogar auf Schildern im öffentlichen Raum. Gerade bei Schildern ist die Herausforderung eine besondere, denn jeder Buchstabe beansprucht Platz, und Platz ist nicht immer ausreichend vorhanden und kostet Geld.
Als ein schönes Beispiel führte der „Guardian“-Artikel ein deutsches Geschäft an, über dem in großen Buchstaben das Wort „Fußbodenschleifmaschinenverleih“ steht. Der Autor benötigte 13 Wörter, um auf Englisch zu erklären, was das sei.
Vor einiger Zeit entdeckte ich im Hamburger Hafen ein Warnschild, auf dem die Worte „Lebensgefahr“, „Abstand halten“ und „Elektrofischscheuchanlage“ standen. Das E-Wort war nicht nur bemerkenswert lang, sondern obendrein auch noch bemerkenswert mysteriös. Ich hatte noch nie zuvor von einer Scheuchanlage gehört und erst recht nicht von Elektrofischen. Wie mögen die wohl aussehen? Und was passiert mit ihnen in dieser Anlage? Für mich hörte sich das nach einer sadistischen Tierversuchseinrichtung an. (Tatsächlich soll eine solche Anlage Fische schützen, indem ein elektrischer Impuls sie davor bewahrt, in Wasserturbinen und Kühlwasserentnahmestellen zu schwimmen.)
In Werbetexten und Anzeigen sind Wortzusammensetzungen mit Überlänge eher die Ausnahme. Mutig sticht jenes Wort hervor, mit dem im vergangenen Sommer ein Modegeschäft in Bayern auf sich aufmerksam zu machen versuchte: DAMENTOTALRÄUMUNGSVERKAUF.
In der Industrie sind längere Wörter hingegen keine Seltenheit. Auf der Internetseite des Haushaltspapiertücherrollenherstellers Zewa (wisch & weg) kann man Informationen einholen über eine sogenannte „Durchtropfsicherheitsgarantie“. Ich hoffe, die hält, was sie verspricht, sonst käme es womöglich zu einer Haushaltspapiertücherdurchtropfsicherheitsgarantieverletzung, und da möchte ich nicht in der Haut des Sachbearbeiters stecken, der sich damit befassen muss.
Ein tschechischer Campingplatz bietet neben Sandstrand, Minigolfanlage und Ziegelmehltennisplätzen auch eine 30 Buchstaben lange „Pedalwasserfahrzeugleihanstalt“. Mit dem schönen Wort „Anstalt“ lässt sich noch manches andere veranstalten: Im Duden findet man zum Beispiel noch das Wort „Tierkörperbeseitigungsanstalt“, es nimmt eine ganze Spaltenbreite ein, was schon etwas Besonderes ist. Überboten wird dieses Wort nur noch vom „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“, für das eine Duden-Spaltenbreite nicht ausreicht.
Die Naturwissenschaften sind Meister im Erschaffen langer Wörter. Schon als Schüler hat mich an der Desoxyribonukleinsäure mehr die Zusammensetzung der Buchstaben als die der Moleküle interessiert. In einem Allergiker-Forum stieß ich einmal auf das Phänomen eines Hautausschlags, der durch eine bestimmte Raupenart verursacht wird, genauer gesagt durch deren Härchen. Es handelt sich bei diesem Phänomen um die sogenannte Eichenprozessionsspinnerraupenhaardermatitis. Das fand ich so beeindruckend, dass ich’s mir gleich notiert habe. In der Praxis wird dieses Wort allerdings meistens zur „Raupenhaar-Dermatitis“ verkürzt.
Eines der längsten real existierenden Wörter stammt aus der Physik. Es ist ein Funktionsdiagramm, das nicht nur die Wahrscheinlichkeit des Aufenthalts von Valenzelektronen verzeichnet, sondern auch unwahrscheinlich viele Buchstaben – 63, um es genau zu sagen: Valenzelektronenaufenthaltswahrscheinlichkeitsfunktionsdiagramm.
Die wohl längsten Wörter bringt die Verwaltungssprache hervor. Alles, was mit Gesetzen und Verordnungen zu tun hat, wächst sich schnell zu einem Monstrum aus. Die Mitgliederzeitschrift der Iduna-Versicherung beschäftigte sich in einer Ausgabe des Jahres 2010 mit der Frage: „Welche PKV-Beitragsanteile sind gemäß Krankenversicherungsbeitragsanteilsermittlungsverordnung abzugsfähig?“ (56 Buchstaben)
Rekordverdächtig ist jene Konstruktion, die 1999 in Mecklenburg-Vorpommern geprägt wurde. Dort erließ der Landtag ein „Gesetz zur Übertragung der Aufgaben für die Überwachung der Rinderkennzeichnung und Rindfleischetikettierung“. Im Juristendeutsch, in dem das Entscheidende bekanntlich immer zuletzt genannt wird, wurde daraus das „Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz“, kurz RkReÜAÜG. Dies war sogar einer der Vorschläge für das Wort des Jahres 1999. Aus nachvollziehbaren Gründen hat man sich dann aber doch lieber für das Wort „Millennium“ entschieden.
Mein Favorit unter all den langen und noch längeren Zusammensetzungen stammt aus dem Sport und kommt auf immerhin 55 Buchstaben: Frauenfußballweltmeisterschaftsendrundenteilnehmerinnen. Darunter kann sich jeder etwas vorstellen, im Unterschied zum Valenzelektronendingsbums und dem RkReÜAÜG.
Hoffen wir, dass uns die Befähigung zur Langwortkomposition nicht eines Tages abhandenkommt. Sie ist nämlich ein gutes Training für Jung und Alt, um komplexe Zusammenhänge zu erfassen und darzustellen. Und unsere Freunde im Ausland sollen schließlich auch weiterhin in der deutschen Sprache Wörter finden können, die sie gleichermaßen faszinieren und fassungslos machen. Und um die sie uns vielleicht sogar ein bisschen beneiden.
(c) Bastian Sick 2012
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 5“ erschienen.
Bildergalerie: Lange Wörter
Ausschnitt aus der englischen Sendung „Top Gear“ auf YouTube: Doppelkupplungsgetriebe
Zum Thema: Das Elend mit dem Binde-Strich
Zum Thema: Dem Wahn Sinn eine Lücke