Die Einwohner von Münster sind keine Münsterer, sondern Münsteraner, und Kasseler werden auch Kasselaner genannt. Die Ableitungen von Städtenamen bereiten gelegentlich Probleme; doch wer sich nicht zurechtfindet, braucht nicht zu verzagen: Die Einwohner sind sich mitunter selbst nicht einig, wie sie sich nennen sollen.
„Guten Tag, ist dort die Hannoveraner Aids-Beratungsstelle?“ – „So ungefähr, hier ist die Hannöversche Aids-Hilfe e.V.!“ – „Wie bitte? Hannoverische Aids-Hilfe?“ – „Nein, hannöversch, mit ö!“ – „Hannöver? Ich wollte aber mit jemandem von der Beratungsstelle in Hannover sprechen! Bin ich da jetzt falsch verbunden?“ – „Nein, Sie haben richtig gewählt, unser Verein heißt offiziell Hannöversch, aber das ist dasselbe wie hannoverisch.“ – „Ja, warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?!“
Es gibt Menschen, die behaupten, außer der Messe habe Hannover nicht viel zu bieten. Das ist freilich Ansichtssache. Was die Möglichkeiten der Namensableitungen betrifft, sticht Hannover die meisten anderen Städte in Deutschland aus, denn da hat es nicht weniger als fünf Varianten zu bieten.
Der Bürgermeister von Hannover kann als hannoverischer oder hannoverscher Bürgermeister und als hannöverischer oder hannöverscher Bürgermeister durchgehen. Und eben als Hannoveraner Bürgermeister.
Die letzte Form kommt in der heutigen Zeit am häufigsten zum Einsatz, obwohl es sich streng genommen gar nicht um ein Adjektiv handelt. Aber die Einwohnerbezeichnung hat dem Adjektiv auf -isch den Rang abgelaufen. Wer würde statt Wiener Schmäh und Berliner Schnauze heute noch von „wienerischem Schmäh“ und „berlinerischer Schnauze“ sprechen?
Oder vom „lübschen Holstentor“? Die traditionsreiche Hansestadt Lübeck kennt nicht weniger als drei Ableitungen: von lübeckisch über lübisch bis hin zu lübsch. Trotzdem heißt es Lübecker Bucht und Lübecker Marzipan. Die Adjektivformen, insbesondere die beiden kürzeren, sind aus der Mode geraten.
Mit den unflektierbaren Nominalformen à la Lübecker, Berliner und Wiener wähnt man sich auf der sicheren Seite: Sie sind bequemer, oftmals kürzer und meistens leichter auszusprechen als die Adjektive mit ihrem nuscheligen Sch-Laut am Ende.
Verunsicherung bereitet indes die Frage, wann man dem Bewohner nur ein -er anhängt, und wann ein -aner, -iner oder -ser.
Die Regel hierzu lautet: Städtenamen, die auf einem unbetonten -er enden, erhalten in der Ableitung ein -aner, um eine Doppelung der Silbe -er zu vermeiden. Also Münsteraner statt Münsterer, Jeveraner statt Jeverer.
Die Stadt Leer mogelt da ein bisschen. Zwar endet auch ihr Name auf -er, aber nicht mit einer unbetonten Silbe. Dennoch ist es den Bewohnern von Leer lieber, Leeraner genannt zu werden. Dafür gibt es einen guten Grund: Wer sich mit den Worten „Ich bin Leerer“ vorstellt, könnte fälschlicherweise für einen Lehrer gehalten werden.
Die Verwendung von -aner ist allerdings deutlich zurückgegangen, und der Duden vermerkt, dass sie in keinem Fall unbedingt nötig sei. Wer also den salzgitterschen Bürgermeister einen Salzgitterer nennt, wird zwar von einigen Salzgitteranern strenge Blicke ernten, aber für einen Stadtverweis reicht es nicht mehr aus.
In den Medien ist immer mal wieder von einem „Zuffenhausener Sportwagenbauer“ die Rede, vor allem dann, wenn gerade händeringend ein Synonym für Porsche gesucht wird. Das soll Sachkenntnis vortäuschen (Seht, ich kenne mich aus in der Branche, ich weiß, dass Porsche in Zuffenhausen sitzt!), beweist aber in Wahrheit vor allem Ortsunkenntnis. Denn die Einwohner Zuffenhausens nennen sich selbst nicht Zuffenhausener, sondern Zuffenhäuser. Dafür sind die Bewohner von Oberhausen nicht Oberhäuser, sondern Oberhausener. Da kenne sich einer aus! Ortsnamen auf -hausen, -kirchen, -hagen und -hofen/-hoven können unterschiedliche Ableitungen haben, der Duden empfiehlt, man richte sich am besten nach den jeweils ortsüblichen Formen.
Es kann durchaus passieren, dass einem die falsche Ableitung richtig übel genommen wird. Angeblich reagieren die Badener äußerst empfindlich, wenn sie Badenser genannt werden, noch dazu mit Betonung auf der zweiten Silbe: Badénser. Historisch gesehen ist „Badenser“ allerdings keine Verunglimpfung, so wurden die Bewohner des früheren Landes Baden üblicherweise genannt. Wer im Umgang mit ihnen nicht baden gehen will, hält sich heute besser an die Form „Badener“.
Unter einem (Sachsen-)Anhaltiner verstand man früher lediglich ein Mitglied der fürstlichen Familie, die Ableitung „Anhalter“ hingegen bezog sich auf das Land. Daher hieß und heißt der berühmte Bahnhof in Berlin auch „Anhalter Bahnhof“ und nicht „Anhaltiner Bahnhof“. Heute sind Sachsen-Anhaltiner dasselbe wie Sachsen-Anhalter, nämlich alle Bewohner des Bundeslandes Sachsen-Anhalt. Ein Bedeutungsunterschied existiert ebenso wenig wie eine überzeugende Begründung, warum nur das eine oder das andere richtig sein sollte.
Die Ableitung -aner kommt übrigens nicht nur bei Städtenamen, die auf -er enden, zum Einsatz, sondern auch bei einigen, die auf -el enden. Neben der Form „Weseler“ findet man für die Einwohner der Stadt Wesel auch noch die Bezeichnung „Weselaner“, allerdings deutlich seltener, was die These belegt, dass die „-aner“-Formen insgesamt auf dem Rückzug sind. Wer die berühmte Echo-Testfrage „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?“ in die Schlucht ruft, dem wird es jedenfalls nicht „Weselaner!“ entgegenschallen.
Auf einem Bauernhof im Kasseler Land steht ein kleines Ferkel vor einem gewichtigen Problem. „Du, Mami“, fragt es seine Mutter, „was bin ich eigentlich: ein Kasseler, ein Kasselaner oder ein Kasseläner, wie der Bauer sagt?“ – „Ich habe keine Ahnung“, grunzt die Mutter, „frag das doch mal die Katze, die weiß doch immer alles.“ Also stellt das Ferkel seine Frage der Katze, und die fährt sich mit der Zunge übers Maul und antwortet sibyllinisch: „Ob du ein Kasseler bist oder ein Kasselaner, das spielt keine Rolle. Sicher ist nur dies: Eines Tages wirst du Kassler sein!“
(c) Bastian Sick 2004
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.