Sonntag, 20. Oktober 2024

Fahne oder Flagge?

Sind „Fahne“ und „Flagge“ das Gleiche, oder gibt es zwischen beiden Wörtern einen Bedeutungsunterschied? Eine Lehrerin aus Italien will wissen, ob sie womöglich einen Fehler gemacht habe, als sie ihren Schülern die „deutsche Flagge“ vorstellte. Hat sie aber nicht. Der Zwiebelfisch erklärt, warum das eine so gut wie das andere ist.

ILLUSTRATION: KATHARINA M. RATJEN

Frage einer Deutschlehrerin aus Venedig: Lieber Zwiebelfisch! Worin besteht bitte der Unterschied zwischen Flagge und Fahne? Ich habe einmal den Ausdruck „deutsche Flagge“ gebraucht, als ich sie meinen Schülern in Italien vorstellte. Die deutsche Lektorin hat mir aber gesagt, „Fahne“ sei vorzuziehen, „Flagge“ sei falsch. Leider konnte sie dies nicht näher begründen. Darum wende ich mich nun an Sie und danke Ihnen schon vorab für Ihre Hilfe!

Antwort des Zwiebelfischs: Dass Sie mir aus Venedig schreiben, versetzt mich geradezu in flatterhafte Südlust! Dort wäre ich jetzt auch sehr gern! Stattdessen sitze ich hier am Schreibtisch, blättere in Wörterbüchern und konsultiere sogar das Grundgesetz. Die Frage, ob es zwischen Fahne und Flagge einen Unterschied gebe und ob das eine dem anderen vorzuziehen sei, ist ein Dauerbrenner! Gerade zur Fußballweltmeisterschaft wird sie immer wieder gestellt, weil viele Fußballanhänger gern wüssten, ob sie sich nun eine deutsche Fahne oder eine deutsche Flagge kaufen sollen. Manche glauben, der Unterschied bestehe darin, dass eine Flagge kleiner sei als eine Fahne. Oder dass eine Flagge eher ein inoffizieller Fetzen sei, im Unterschied zum staatstragenden Fahnentuch. Das ist aber nicht richtig. Tatsächlich sind Fahne und Flagge gleichbedeutend. Es handelt sich um zwei verschiedene Wörter für dieselbe Sache mit unterschiedlicher Herkunft und Geschichte.

Die Fahne ist das Land-Wort, während die Flagge ursprünglich in der Seefahrt zuhause war. Fahnen wehten also an Land, Flaggen auf See. Daher gibt es in der Seefahrt auch Flaggschiffe, Flaggoffiziere und ein Flaggenalphabet (und nicht etwa ein Fahnenalphabet). Und bevor ein Schiff in ein anderes Land verkauft werden kann, wird es „ausgeflaggt“.

An Land gab es hingegen den Fahnenjunker, den Fähnrich und die Fahnenflucht. Die Fahne geht auf das althochdeutsche Wort „fano“ zurück, das „Tuch“ bedeutet. Das Wort „halsfano“, das es im frühen Mittelalter noch gab, entspricht unserem heutigen „Halstuch“. In dem Maße, in welchem bei den kampflustigen Germanen Feldzeichen und Herrschaftssymbole an Bedeutung gewannen, verschob sich der Wortsinn vom ursprünglichen Tuch mehr und mehr zur heutigen Fahne. Das Wort „Fahne“ gibt es also schon sehr lange im Deutschen. Die Flagge hingegen gelangte erst im 17. Jahrhundert in die Hochsprache, und zwar aus dem Niederdeutschen. Leicht erkennt man seine Verwandtschaft mit dem englischen Wort „flag“, dem niederländischen Wort „vlag“ und dem dänischen Wort „flag“.

Fahnen waren oft kostbare, von Hand gefertigte Kunstwerke aus Seide oder Leinen, die mit aufwendigen Stickereien verziert waren. Das Aufkommen von Textilmanufakturen im Merkantilismus machte es möglich, Fahnen auch als Massenprodukt herzustellen.

Gleichzeitig begünstigte die zunehmende Bedeutung der Seefahrt (nach der Entdeckung Amerikas) die Verbreitung des niederdeutschen Wortes „Flagge“. In einigen Definitionen wird daher die Fahne heute mit dem kunstvollen Einzelstück gleichgesetzt, während „Flagge“ für das industrielle Massenprodukt stehen soll*. Diese Unterscheidung ist aber sprachgeschichtlich nicht aufrechtzuerhalten. Der Fortschritt in der Textilherstellung fiel zeitlich mit der Ausbreitung des Wortes „Flagge“ zusammen, denn beide sind eine Folge der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der frühen Neuzeit. Die Fahne hat sich im Laufe der Jahrhunderte also materiell und qualitativ verändert, und sie wurde immer häufiger „Flagge“ genannt, aber eine feste Unterscheidung gab es nie.

Wäre Deutschland, wie von Kaiser Wilhelm II. angestrebt, eine führende Seemacht geworden, hätte die Flagge vielleicht eines Tages die Fahne aus der deutschen Sprache verdrängt. Dazu kam es aber nicht, sodass sich beide Wörter bis heute die Waage halten.

In Artikel 22 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt es: „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold“. Das Wort „Flagge“ taucht auch sonst in amtlichen Zusammenhängen häufig auf. Ihre Kollegin dürfte somit etwas vorschnell geurteilt haben. Vielleicht war sie aber auch vom Schweizerischen beeinflusst, denn in der Schweiz wird nur das Wort „Fahne“ gebraucht; die „Flagge“ hat dort keine Verbreitung gefunden, was unter anderem mit der geringen Anzahl an Schweizer Seehäfen zu erklären ist.

Einigen Deutungen zufolge wird die „Fahne“ auch als Gesamtheit aus Stange und Tuch gesehen. Demnach aber müsste eine Aussage wie „Die Fahne flattert im Wind“ unpräzise sein, da nur das Tuch wirklich flattert, während die Stange bestenfalls hin- und herschwankt. Die Definition „Flagge = Fahnentuch; Fahne = Flagge plus Stange“ ist zu eng gefasst. In meinem Leben als Korrekturleser und Autor habe ich jede Menge Druckfahnen gesehen, und die hingen nie an einer Stange. Auch die Schnapsfahne kommt ohne Mast aus (wiewohl sie sich gelegentlich um einen Laternenmast wickelt). Ob über dem Reichstag nun eine Fahne oder eine Flagge weht, soll mir egal sein, solange diese beiden nicht noch mit anderen Symbolen durcheinandergeworfen werden.

In einem Zeitungsartikel zur Fußballweltmeisterschaft stand einmal zu lesen: „Viele Fans haben sich das Gesicht mit der deutschen Flagge bemalt.“ Daraufhin fragten mich mehrere Leser, ob es nicht „Fahne“ heißen müsse. „Nein“, erwiderte ich, denn weder das eine noch das andere war zutreffend. „Eine Fahne taugt ebenso wenig zum Malen wie eine Flagge“, schrieb ich zurück, „die Fans haben sich das Gesicht in den deutschen Farben bemalt.“

Flaggen und Fahnen tauchen auch in einigen Redewendungen auf. Dort sind sie allerdings nicht austauschbar. Wer „Flagge zeigt“, also Farbe bekennt, der zeigt nicht Fahne. Wer sich etwas „auf seine Fahne schreibt“, schreibt es sich nicht auf seine Flagge. Das erinnert mich an jenen Satz, den ein Sportreporter der „Süddeutschen Zeitung“ im Juli 2005 über Jan Ullrich schrieb: „Er belegte einen enttäuschenden 12. Platz. Viel entscheidender ist allerdings, dass er in der ersten Schlacht gegen Lance Armstrong mit Fliegen und Fahnen unterging.“

 (c) Bastian Sick 2012

*Siehe z.B. „Was ist Was“ Band 75 „Fahnen und Flaggen“, Tesloff-Verlag 2006 


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 5“ erschienen.

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