Der Genitiv gerät zusehends aus der Mode. Viele sind ihn überdrüssig. Dennoch hat er in unserer Sprache seinen Platz und seine Berechtigung. Es kann daher nicht schaden, sich seinem korrekten Gebrauch zu erinnern. Sonst wird man dem Problem irgendwann nicht mehr Herr und kann dem zweiten Fall nur noch wehmütig gedenken.
„Am Sonntag wird in Kampehl dem 354. Geburtstag von Ritter Kahlbutz mit einem Konzert gedacht“, meldete eine Berliner Tageszeitung am 3. März. Ich wusste zwar bis zu diesem Tage nicht, wo Kampehl liegt, und ich hatte auch keinen blassen Schimmer, wer Ritter Kahlbutz war. Immerhin aber wusste ich, dass Ritter Kahlbutz nicht der Ritter von der traurigen Gestalt war. Der nämlich kämpfte einst in Spanien gegen Windmühlen. Unser Ritter Kahlbutz hingegen scheint von der Presse nachträglich zum „Ritter von dem degenerierten Genitiv“ stilisiert zu werden. Weswegen „ihm“ ja auch gedacht werden muss.
Inzwischen habe ich mich natürlich schlau gemacht: Ritter Christian Friedrich von Kahlbutz lebte von 1651 bis 1702 im brandenburgischen Kampehl. 1690 war er des Totschlags angeklagt, erwirkte jedoch mittels eines Reinigungseides einen Freispruch. Vor Gericht soll er gesagt haben, wenn er „der Mörder dennoch gewesen sein soll, so wolle er nicht verwesen!“ Fast hundert Jahre nach seinem Tod fand man in der Gruft seine Mumie – und damit den Beweis für den Meineid. Die deutsche Sagenwelt ist seitdem um eine schaurig-schöne Geschichte reicher, und das beschauliche Dorf Kampehl hat eine Touristenattraktion ersten Ranges. Die deutsche Grammatik indes hat ein Problem – und zwar immer dann, wenn dem Ritter gedacht wird. Denn „gedenken“ ist eines der (wenigen) deutschen Verben, die ein Genitivobjekt nach sich ziehen. Daher muss es richtig heißen: Es wird des Ritters gedacht. Oder wenigstens seines Geburtstages. In Abwandlung einer bekannten Werbekampagne für einen großen deutschen Fernsehsender ließe sich hier feststellen: Mit dem zweiten klingt es besser!
Schauplatzwechsel: Im Februar 2005 fand in Magdeburg eine Kundgebung von Neonazis statt. Die Demonstranten trugen ein Spruchband vor sich her, auf dem zu lesen stand: „Wir gedenken den Opfern des alliierten Holocaust“. Da wird sich nicht nur mancher Lehrer spontan gedacht haben: „Geht erst mal nach Hause und macht eure Schulaufgaben!“ Falsches Deutsch auf einem Spruchband einer von dümmlicher Deutschtümelei besoffenen Splittergruppe wirkt freilich besonders absurd. Doch die Herren Neonazis sind bei weitem nicht die einzigen, die „dem“ Genitiv nicht mehr mächtig sind.
Die Presse trägt nicht unwesentlich zur Verbreitung des Eindrucks bei, dass der Genitiv vom sprachlichen Spielfeld ausgewechselt und auf die Reservebank geschickt werden soll. „Als am Mittwoch der Bundestag seinem früheren Präsidenten Hermann Ehlers gedachte, hielt auch Merkel eine Rede“, konnte man auf einer Internet-Nachrichtenseite lesen. Bleibt nur zu hoffen, dass wenigstens Angela Merkel in ihrer Rede des Verstorbenen im richtigen Fall gedachte.
Auch das „Herr werden“ ist eine verbale Konstruktion, in der der Genitiv (noch) herrscht, aber immer häufiger vom Dativ verdrängt wird. Als die Stadt Bern drastische Maßnahmen zur Bekämpfung einer Krähenplage beschloss, schrieb eine Hamburger Boulevardzeitung: „Um dem lauten Gekrächze und all dem Dreck Herr zu werden, setzt die Stadt nun rote Laserstrahlen gegen die schwarzen Vögel ein.“ Eine andere große Tageszeitung rätselte nach der Flutkatastrophe in Südostasien darüber, „wie man dem Chaos Herr werden kann.“ Und auch der „Spiegel“ scheint den Genitiv für altmodisch zu halten. In einem Artikel über Rechtsextremismus war zu lesen: „PDS-Fraktionschef Peter Porsch glaubt nur noch mit einem erneuten Verbot dem Problem Herr zu werden.“ Nicht erst seitdem zerbrechen sich Genitiv-Freunde den Kopf darüber, wie man des Problems hinter dem Herrwerden noch Herr werden kann.
„Sich einer Sache annehmen“ ist ein weiterer Fall. „Die Stadt braucht einen Stadtbaumeister, der sich dem Thema Baukultur annehmen soll“, forderte eine Kölner Tageszeitung. Immerhin besaß sie die Größe, wenige Tage später einen Leserbrief abzudrucken, in dem ein entrüsteter Leser forderte, die Zeitung solle sich „endlich mal wieder des Genitivs annehmen“.
Übrigens wurde einst sogar das Verb „vergessen“ mit dem Genitiv gebildet. Das kann man heute noch an dem schönen Wort „Vergissmeinnicht“ erkennen, das eben nicht „Vergissmichnicht“ heißt. Aber der Genitiv hinter „vergessen“ geriet in Vergessenheit. Nomen est omen. Allein das Blümchen ist geblieben und hält trotzig die Erinnerung an den Genitiv wach. Wenn Sie das nächste Mal einen Strauß Vergissmeinnicht bekommen, dann halten Sie kurz inne und gedenken Sie des Genitivs!
Und während ich hier sitze und mich gedanklich der Sache des zweiten Falles annehme, schaut mein lieber Kollege Gerald zur Tür herein und sagt mit einem breiten Grinsen: „Wenn du meinen Rat hören willst: Genitiv ins Wasser, denn es ist Dativ!“ („Geh nie tief ins Wasser, denn es ist da tief!“) Voll des Dankes ob dieses erbaulichen Spruchs blecke ich die Zähne und grinse zurück.
Statt ins Wasser zu gehen, stelle ich lieber eine Liste mit Verben zusammen, die heute noch ein Genitivobjekt haben. Allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Zwei Kategorien lassen sich dabei unterscheiden: Zum einen die vollreflexiven Verben (die ausschließlich mit Reflexivpronomen gebraucht werden können), zum anderen Verben aus der Gerichtssprache (zum Beispiel verdächtigen, anklagen, überführen). Man nennt den Genitiv hier auch Genitivus criminis.
Verben mit Genitivobjekt | |
anklagen | Er war des Mordes angeklagt. |
annehmen | Wir nahmen uns des Themas an. |
bedienen | Darf ich mich kurz Ihres Telefons bedienen? |
bedürfen | Es bedarf keines Wortes. |
bemächtigen | Da bemächtigte sich der Teufel ihrer Seelen. |
beschuldigen | Man beschuldigte ihn des Mordes. |
besinnen | Sie besannen sich eines Besseren. |
bezichtigen | Er wurde des Mordes bezichtigt. |
enthalten | Er enthielt sich jeglichen Kommentars. |
entledigen | Rasch entledigte sie sich ihrer Kleider. |
erbarmen | Herr, erbarme dich unser! |
erfreuen | Sie erfreut sich bester Gesundheit. |
erinnern | Ich erinnere mich dessen noch sehr genau. |
freuen | Er freut sich seines Lebens. |
gedenken | Der Opfer wurde gedacht. |
harren | Gespannt harren wir der Fortsetzung. |
rühmen | Man rühmte ihn seiner Taten. |
überführen | Der Angeklagte wurde der Lüge überführt. |
verdächtigen | Man verdächtigte sie der Spionage. |
vergewissern | Im Spiegel vergewisserte er sich seiner selbst. |
versichern | Sie versicherten sich ihrer gegenseitigen Zuneigung. |
schämen | Ich schäme mich dessen. |
zeihen | Man zieh ihn des Verrats. |
(c) Bastian Sick 2005
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 2“ erschienen.
Ich vermisse die Adjektive, die den Genitiv regieren. In Lübeck im Katharineum gelernt: Begierig, kundig, eingedenk, teilhaftig, mächtig,voll.
Jahre später fand ich den Spruch bei Ernst Bloch zitiert und ergänzt „… regieren den Genitiv und die Wunschträume des Bürgers“ – oder schrieb er „Bourgeois“? – das weiß ich nicht mehr so genau.
Mein Lieblingsverb mit einem Genitivobjekt: innewerden.
Grüße und Danke für den schönen Artikel.
einer Sache müde werden
würdig sein,
gedenken
bedürfen
beiwohnen
Verdächtig sein
sich einer Sache erinnern
würdig erweisen
sicher sein
versichern
Jemanden einer Sache überführen
Als Genitivfreund habe ich noch einige gesammelt..